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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Schuld, aber wir empfanden es so. Wir gingen mit ihr zum Tierarzt und kauften ihr Spezialfutter, aber sie wurde nur immer kränker. Inzwischen hatten wir sie beide wirklich liebgewonnen. Meine Mutter ging noch einmal mit ihr zu einem Spezialisten im Animal Medical Center, und der Tierarzt sagte: Diese Hündin hat eine Krankheit – deren Namen ich vergessen habe –, und sie hatte sie schon, als ihr sie gefunden habt, und ich weiß, es ist nicht das, was ihr hören wollt, aber es wäre sehr viel besser, wenn ihr sie jetzt sofort einschläfert.
    Meine Hand war in einem verwegenen Zickzack über das Papier geflogen. Aber als ich das Ende der Seite erreichte und nach einem neuen Blatt griff, hielt ich entsetzt inne. Was ich als Schwerelosigkeit empfunden hatte, als schwungvolles Gleiten der letzten Gelegenheit, war keineswegs der eloquente, gewinnende Abschied, den ich mir vorgestellt hatte. Meine Handschrift lief schräg und schlampig quer über das Papier, nicht intelligent, nicht zusammenhängend, nicht mal leserlich. Es musste eine viel kürzere und einfachere Möglichkeit geben, Hobie zu danken und zu sagen, was ich zu sagen hatte– nämlich, dass er kein schlechtes Gewissen zu haben brauche. Dass er immer gut zu mir gewesen sei und sein Bestes getan habe, um mir zu helfen, genau wie meine Mutter und ich unser Bestes getan hatten, um diesem kleinen Pitbull-Mädchen zu helfen, das– tatsächlich ein Knackpunkt der Geschichte, aber ich wollte sie nicht allzu sehr in die Länge ziehen– bei allen liebenswürdigen Eigenschaften in den Tagen vor seinem Tod unglaublich zerstörerisch aufgetreten war: Sie hatte praktisch das ganze Apartment verwüstet und unser Sofa in Fetzen gerissen.
    Weinerlich, selbstverliebt, geschmacklos. Meine Kehle fühlte sich an, als sei sie mit einem Rasiermesser ausgeschabt worden.
    Runter mit dem Polster. Sieh da, wir haben den Holzwurm. Müssen mit Cuprinol behandeln.
    In der Nacht meiner Überdosis oben in Hobies Badezimmer, als ich nicht damit gerechnet hatte, noch einmal aufzuwachen, und doch wieder aufgewacht war, mit der Wange auf den psychedelischen alten Bodenfliesen, hatte ich erstaunt erkannt, wie strahlend ein Vorkriegsbadezimmer mit schlichten weißen Armaturen aussehen konnte, wenn man es aus dem Jenseits betrachtete.
    Der Anfang vom Ende? Oder das Ende vom Ende?
    Fabelhaft. Noch nie so viel Spaß gehabt.
    Eins nach dem andern. Aspirin. Kaltes Wasser aus der Minibar. Die Aspirintabletten scheuerten in meiner Brust und blieben dort stecken, als hätte ich Kies geschluckt, und ich hämmerte mir gegen das Brustbein, um sie zum Rutschen zu bringen. Von dem Alkohol fühlte ich mich jetzt sehr viel schlechter, durstig, verwirrt, Angelhaken in der Kehle, Wasser, das mir absurd über die Wange rieselte, hechelnd und keuchend hatte ich den Wein aufgemacht, um mir etwas Gutes zu tun (dachte ich), aber er ging herunter wie Terpentin, brennend scharf in meinem Magen, sollte ich mir ein Bad einlassen, sollte ich mir von unten etwas Heißes kommen lassen, etwas Einfaches, Brühe oder Tee? Nein: Ich musste ganz einfach den Wein austrinken oder vielleicht sofort mit dem Wodka anfangen. Irgendwo im Netz hatte ich gelesen, dass nur zwei Prozent aller Selbstmordversuche durch Überdosis erfolgreich waren, was mir absurd wenig vorkam, auch wenn es durch frühere Erfahrungen bestätigt wurde. Es wird nicht mehr regnen. Das hatte jemand als Abschiedsbrief hinterlassen. Es war nur eine Farce. Jean Harlows Mann, der sich in der Hochzeitsnacht umgebracht hatte. Georges Sanders’ letzte Worte waren die besten gewesen, ein alter Hollywood-Klassiker, mein Vater hatte sie auswendig gekonnt und gern zitiert. Liebe Welt, ich gehe, denn mir ist langweilig. Und dann Hart Crane. Pirouette und ein Satz, das Hemd gebläht im Fall. Goodbye, everybody! Ein lauter Abschiedsruf, ein Sprung vom Schiff.
    Mein Körper war nicht mehr mein Eigentum. Meine Hände bewegten sich für sich von selbst, schwebten aus eigenem Antrieb, und als ich aufstand, war es, als führte ich eine Marionette: Ich faltete mich auseinander, erhob mich ruckhaft an meinen Fäden.
    Hobie hatte mir erzählt, als junger Mann hätte er Cutty Sark getrunken, weil das Hart Cranes Whiskey gewesen sei. Cutty Sark bedeutet » kurzer Rock « .
    Hellgrüne Wände im Klavierzimmer, Palmen und Pistazieneis.
    Eisbedeckte Fenster. Die ungeheizten Räume aus Hobies Kindheit.
    Die Alten Meister, sie irrten sich nie.
    Was dachte ich, was fühlte ich?
    Das Atmen

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