Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
tat weh. Der Umschlag mit dem Heroin lag auf dem Nachttisch auf der anderen Seite des Bettes. Aber auch wenn mein Dad mit seiner unerschütterlichen Liebe zur Showbiz-Hölle von der ganzen Inszenierung begeistert gewesen wäre– Stoff, dreckiger Aschenbecher, Alk und das alles–, fand ich die Vorstellung, in meinem Hotelbademantel ausgestreckt aufgefunden zu werden wie ein abgehalfterter Barsänger, eher unerträglich. Nein, ich musste mich frischmachen, duschen und rasieren und meinen Anzug anziehen, damit ich nicht so schmuddelig aussah, wenn sie mich fanden, und erst dann, zuallerletzt, wenn die Spätschicht der Zimmermädchen Feierabend hatte, würde ich das » Nicht stören « -Schild von der Tür nehmen: Besser, sie fänden mich gleich, ich wollte nicht erst entdeckt werden, weil jemand den Geruch bemerkte.
    Ein Gefühl, als wäre seit meinem Abend mit Pippa ein ganzes Menschenleben gekommen und gegangen, und ich dachte daran, wie glücklich ich gewesen war, als ich ihr in der scharfkantigen Winterdunkelheit entgegengeeilt war, wie euphorisch, als ich sie unter der Laterne vor dem Film Forum entdeckt hatte, und wie ich an der Ecke gestanden und das alles genossen hatte: die Freude, ihr dabei zuzusehen, wie sie auf mich wartete. Ihr erwartungsvolles Gesicht, mit dem sie die Menge abgesucht hatte. Nach mir hatte sie gesucht: nach mir. Und die Schockstarre im Herzen, wenn du– nur einen Moment lang– glaubst, du könntest vielleicht bekommen, was dir nie gehören wird.
    Anzug aus dem Schrank. Alle Hemden schmutzig. Warum hatte ich nicht daran gedacht, eins zum Waschen zu geben? Meine Schuhe waren durchnässt und ruiniert, was das Bild um eine letzte traurige Note ergänzte– aber nein (verwirrt blieb ich mitten im Zimmer stehen), wollte ich mich denn voll bekleidet, mit Schuhen und allem Drum und Dran, aufbahren wie einen Toten im Bestattungsinstitut? Wieder war mir der kalte Schweiß ausgebrochen, Frieren und Schüttelfrost, die ganze Oper. Ich musste mich hinsetzen. Vielleicht musste ich mir die Präsentation noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Die Briefe zerreißen. Es aussehen lassen wie ein Unfall. Viel netter, wenn es aussähe, als wäre ich auf dem Weg zu irgendeiner geheimnisvollen Schlips-und-Kragen-Party gewesen und hätte auf dem Weg nach draußen noch schnell eine Nase genommen– hätte auf der Bettkante gesessen, ein bisschen zu viel: Wunderkerzen, zisch und plopp, und selig auf den Rücken gekippt. Hoppla.
    Weiße Flügel des Tumults. Ein Sprung mit Anlauf ins Endlose.
    Dann ein Fanfarenstoß, der mich zusammenfahren ließ. Der liturgische Gesang war in eine unangemessen festliche Orchester-Explosion übergegangen. Melodisch, blechern. Eine Woge der Frustration kochte in mir herauf. Die Nussknacker-Suite. Falsch, ganz falsch. Ein ausgewachsenes Weihnachtsspektakel war ganz sicher nicht die richtige Tonart für meinen Abgang, eine schmetternde Orchesternummer, Marsch der Was-weiß-ich, und ganz plötzlich drehte sich mir der Magen um, und ein heftiger Schwall stieg mir steil in die Kehle, mir war, als hätte ich einen Liter Zitronensaft getrunken, und ehe ich michs versah, fast bevor ich taumelnd den Papierkorb erreichte, kam alles hoch, eine klare, ätzende Flut, Woge auf gelbliche Woge.
    Als es vorbei war, saß ich auf dem Boden mit der Stirn auf der scharfen Metallkante des Papierkorbs, und die Kinderballettmusik funkelte aufreizend im Hintergrund: nicht mal betrunken, das war das Beschissene daran, nur krank. Im Korridor hörte ich einen Schwarm Amerikaner, lachende Paare, die sich laut verabschiedeten, um auf ihre jeweiligen Zimmer zu gehen: alte Freunde vom College, Jobs im Finanzsektor, fünf-plus-x Jahre Unternehmensrecht, und Fiona im Herbst ins erste Schuljahr, alles bestens in Oaklandia, na dann gute Nacht, Gott wir lieben euch, ein Leben, das ich vielleicht auch gehabt hätte, aber ich wollte es nicht. Das war der letzte Gedanke, an den ich mich erinnere, bevor ich schwankend aufstand, die lästige Musik abschaltete und mich mit Magenkrämpfen bäuchlings auf das Bett warf, als stürzte ich mich von einer Brücke. Jede Lampe im Zimmer brannte hell, als ich unter dem Licht versank und die Dunkelheit über meinem Kopf zusammenschlug.
    IV
    Als Junge habe ich nach dem Tod meiner Mutter immer versucht, beim Einschlafen angestrengt an sie zu denken, damit ich vielleicht von ihr träumte, aber das hat nie geklappt. Das heißt, ich träumte ständig von ihr, aber von ihrer Abwesenheit,

Weitere Kostenlose Bücher