Der Distelfink
Einklang zu bringen mit ihren vernünftigen Stimmen, ihrer Bürokleidung aus Polyester, der spanischen Popmusik im Radio und den peppigen Schildern hinter der Theke (Frische Smoothies, Diet Delite, Probieren Sie unsere Truthahn-Burger!).
» Fritos? « , fragte der Kellner, als er mit einem großen Teller Pommes frites an unserem Tisch erschien.
Die beiden Sozialarbeiter zuckten zusammen; der Mann (ich kannte nur die Vornamen: Enrique) sagte etwas auf Spanisch und deutete auf den Tisch mit den Club-Kids, die schon winkten.
Ich saß mit roten Augen und im Schockzustand vor meinem rasch kalt werdenden Teller Rührei und konnte die praktischen Aspekte meiner Situation nicht begreifen. Im Lichte dessen, was passiert war, erschienen mir ihre Fragen nach meinem Vater derart unwesentlich, dass es mir schwerfiel zu verstehen, warum sie sich überhaupt so hartnäckig nach ihm erkundigten.
» Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen? « , fragte die Koreanerin, die mich schon ein paar Mal aufgefordert hatte, sie mit ihrem Vornamen anzureden (ich habe mich immer wieder bemüht, mich an ihn zu erinnern, aber es klappt nicht). Nur ihre pummeligen gefalteten Hände sehe ich immer noch vor mir auf dem Tisch und auch die verrückte Farbe ihres Nagellacks– ein silbriger Ascheton irgendwo zwischen Lavendel und Blau.
» Schätzungsweise? « , drängte der Mann, Enrique. » Was deinen Dad angeht? «
» Grob gerechnet würde schon reichen « , sagte die Koreanerin. » Was glaubst du, wann du ihn zuletzt gesehen hast? «
» Ähm « , nachzudenken strengte mich wahnsinnig an, » irgendwann im letzten Herbst? « Der Tod meiner Mutter kam mir immer noch vor wie ein Irrtum, der sich irgendwie aufklären würde, wenn ich mich nur zusammenriss und mit diesen Leuten kooperierte.
» Im Oktober? September? « , fragte sie sanft, aber ich antwortete nicht.
Mein Kopf tat so weh, dass ich bei jeder Bewegung am liebsten geweint hätte. Aber Kopfschmerzen waren mein geringstes Problem. » Ich weiß es nicht « , sagte ich. » Nachdem die Schule angefangen hatte. «
» Dann würdest du sagen, im September? « Enrique blickte auf, während er sich noch etwas auf seinem Clipboard notierte. Er sah tough aus– anscheinend fühlte er sich unbehaglich in Schlips und Kragen, wie ein zu dick gewordener Sporttrainer–, aber in seinem Tonfall lag das beruhigende Gefühl der Welt zwischen neun und siebzehn Uhr: Aktenablagesysteme, Büroteppichboden, Business as usual im Stadtteil Manhattan. » Kein Kontakt, keine Korrespondenz seitdem? «
» Gibt’s einen Kumpel oder einen guten Freund, der vielleicht weiß, wie man ihn erreichen kann? « , fragte die Koreanerin und beugte sich mütterlich vor.
Die Frage verblüffte mich. Ich kannte keine solche Person. In der bloßen Vermutung, mein Vater hätte gute Freunde (von » Kumpeln « ganz zu schweigen), schwang eine so tiefgehende Fehleinschätzung seiner Persönlichkeit mit, dass ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte.
Erst nach dem Abräumen, in der nervösen Flaute, als das Essen beendet war, aber niemand aufstand, um zu gehen, brach die Erkenntnis plötzlich über mich herein, wo all diese scheinbar irrelevanten Fragen nach meinem Vater und den Großeltern Decker (in Maryland, ich wusste nicht, in welcher Stadt– in irgendeiner halb ländlichen Gegend hinter einem Baumarkt) sowie nach nicht existierenden Onkeln und Tanten ganz offensichtlich hinführen sollten. Ich war ein minderjähriges Kind ohne Vormund. Man musste mich unverzüglich aus meinem Zuhause (aus meinem » Umfeld « , wie sie es dauernd nannten) entfernen. Bis man Kontakt mit den Eltern meines Vaters aufgenommen hätte, wäre die Stadt zuständig.
» Aber was haben Sie denn mit mir vor? « , fragte ich zum zweiten Mal. Ich lehnte mich zurück, und in meiner Stimme lag wieder dieses gewisse panische Krächzen. Alles hatte doch ganz zwanglos gewirkt, als ich den Fernseher abgeschaltet und die Wohnung mit ihnen zusammen verlassen hatte, um » ein Häppchen zu essen « , wie sie es nannten. Es war nie die Rede davon gewesen, dass ich aus meinem Zuhause weggebracht werden müsste.
Enrique warf einen Blick auf sein Clipboard. » Na ja, Theo « , er sprach es– genau wie sie– mit einem einfachen T und einem E-Laut aus, Teo, nicht auf die englische Art, was falsch war, » du bist ein minderjähriger Junge und brauchst unverzüglich Obhut. Wir werden dich in einen Notfallgewahrsam überstellen müssen. «
» Gewahrsam? « Bei
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