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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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die Sommerkurse zum Umgang mit Kompass und Karte im Central Park belegt), aber ich weiß immer noch nicht genau, warum Andys Name mir als Erstes über die Lippen kam, denn so gute Freunde waren wir nicht mehr. Mit dem Eintritt in die Junior High School drifteten unsere Leben auseinander, und ich hatte ihn seit Monaten kaum noch gesehen.
    » Barbour, mit U « , sagte Enrique, als er sich den Namen notierte. » Was sind das für Leute? Freunde? «
    Ja, sagte ich, ich hätte sie praktisch schon mein ganzes Leben gekannt. Die Barbours wohnten in der Park Avenue, und Andy sei ab der dritten Klasse mein bester Freund gewesen. » Sein Dad hat einen Superjob in der Wall Street « , erzählte ich– und dann hielt ich die Klappe. Mir war soeben eingefallen, dass Andys Dad wegen » Erschöpfung « mehrere Monate in einer psychiatrischen Klinik in Connecticut verbracht hatte.
    » Und die Mutter? «
    » Sie und meine Mom sind gute Freundinnen. « (Fast, aber nicht ganz die Wahrheit. Sie hatten zwar ein absolut freundschaftliches Verhältnis zueinander, aber meine Mutter hatte nicht annähernd genug Geld oder Beziehungen für eine Frau wie Mrs. Barbour, die in den Gesellschaftsnachrichten vorkam.)
    » Nein, ich meine, was tut sie? «
    » Sie macht Wohltätigkeitsveranstaltungen « , sagte ich nach einer ratlosen Pause. » Zum Beispiel die Antiquitätenmesse in der Armory? «
    » Sie ist also Hausfrau und Mom? «
    Ich nickte und war froh, dass sie mir diese Formulierung so handlich vorgelegt hatte. Formal gesehen stimmte es auch, aber niemand, der Mrs. Barbour kannte, wäre je auf die Idee gekommen, sie so zu beschreiben.
    Enrique setzte eine schwungvolle Unterschrift unter die Rechnung. » Wir sehen es uns an. Versprechen kann ich dir nichts. « Er ließ den Knopf seines Kugelschreibers klicken und steckte den Stift wieder ein. » Aber wir können dich auf alle Fälle für die nächsten paar Stunden bei diesen Leuten absetzen, wenn du bei ihnen bleiben möchtest. «
    Er rutschte seitwärts von der Bank und ging hinaus. Ich sah durch das Fenster, wie er auf dem Gehweg auf und ab ging und sich beim Telefonieren das andere Ohr mit dem Finger zuhielt. Dann wählte er eine neue Nummer, aber dieser Anruf war viel kürzer. Wir gingen noch mal kurz in unsere Wohnung– es dauerte keine fünf Minuten, gerade so lange, dass ich mir meine Schultasche und ein paar impulsiv und unüberlegt ausgesuchte Kleidungsstücke schnappen konnte–, und dann saß ich wieder in ihrem Wagen auf dem Rücksitz ( » Bist du auch angeschnallt dahinten? « ), lehnte die Wange an die kalte Fensterscheibe und sah zu, wie im Morgengrauen alle Ampeln im leeren Canyon der Park Avenue auf Grün schalteten.
    Andy wohnte im Bereich der oberen Sixtys in einem der großartigen alten, weiß behandschuhten Gebäude an der Park Avenue, dessen Eingangsflur geradewegs aus einem Dick-Powell-Film zu stammen schien und dessen Portiers immer noch überwiegend Iren waren. Sie waren alle schon ewig da, und zufällig erinnerte ich mich an den, der uns hereinließ: Kenneth, der Mitternachtsmann. Er war jünger als die meisten anderen Portiers: totenblass und schlecht rasiert, und oft ein bisschen begriffsstutzig wegen der Nachtschicht. Ein liebenswerter Kerl– er hatte gelegentlich den Fußball für Andy und mich geflickt und uns freundschaftliche Ratschläge zum Umgang mit Schulhoftyrannen gegeben–, aber im Gebäude war er bekannt für ein kleines Alkoholproblem, und als er jetzt zur Seite trat, um uns durch die prachtvollen Türen ins Foyer zu lassen und mir den ersten der zahllosen Lieber Gott, Kleiner, es tut mir so leid -Blicke zuzuwerfen, die ich im Laufe der nächsten Monate kassieren würde, roch ich den sauren Geruch von Bier und Schlaf, den er verströmte.
    » Sie werden erwartet « , sagte er zu den Sozialarbeitern. » Fahren Sie nur hoch. «
    II
    Mr. Barbour öffnete uns die Tür– erst nur einen Spaltbreit, dann ganz. » Morgen, Morgen « , sagte er und trat zurück. Mr. Barbour sah ein winziges bisschen merkwürdig aus. Er hatte etwas Helles, Silbriges an sich, als hätte die Behandlung in der » Klapse « (wie er es nannte) in Connecticut ihn zum Leuchten gebracht. Seine Augen waren von einem merkwürdigen instabilen Grau, und sein Haar war schneeweiß, was ihn älter aussehen ließ, als er war, bis man sah, dass sein Gesicht noch jung und rosig war– ja, sogar jungenhaft. Mit seinen roten Wangen und seiner langen, altmodischen Nase in Verbindung mit dem

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