Der Distelfink
und Bademantel umherschlurfen und Kaffee aufsetzen, den Toaster einschalten und die Kinder für die Schule wecken.
Und was würde ich tun? Ein Teil meiner selbst war unbeweglich, gelähmt von Verzweiflung wie bei einer Ratte, die in einem Laborexperiment die Hoffnung verliert und sich im Labyrinth hinlegt, um zu verhungern.
Ich versuchte, meine Gedanken zu sammeln. Eine Weile hatte es fast den Anschein gehabt, als müsste ich nur still genug dasitzen und abwarten, und dann würde alles irgendwie wieder in Ordnung kommen. Meine Erschöpfung ließ die Gegenstände in der Wohnung verwackelt aussehen; ein Lichtkranz flimmerte um die Tischlampe, und das Streifenmuster der Tapete schien zu vibrieren.
Ich nahm das Telefonbuch und legte es wieder hin. Der Gedanke, die Polizei anzurufen, war erschreckend. Was konnte die Polizei auch tun? Aus dem Fernsehen wusste ich nur zu gut, dass eine vermisste Person mindestens vierundzwanzig Stunden verschwunden sein musste. Ich war eben zu der Überzeugung gelangt, ich müsse losziehen, in Richtung Uptown, und sie suchen, auch wenn es noch mitten in der Nacht war– und zum Teufel mit unserem Familienkatastrophenplan–, aber da zerriss ein ohrenbetäubendes Summen (die Türglocke) die Stille, und mein Herz machte einen Freudensprung.
Hals über Kopf hastete und schlitterte ich zur Tür und fummelte am Schloss herum. » Mom? « , rief ich, schob den oberen Riegel zur Seite, riss die Tür klappernd auf– und dann stürzte mein Herz sechs Stockwerke tief ab. Draußen auf der Matte standen zwei Leute, die ich noch nie gesehen hatte: eine pummelige Koreanerin mit kurzem, stacheligem Haarschnitt und ein hispanischer Typ in Oberhemd und Krawatte, der große Ähnlichkeit mit Luis aus der Sesamstraße hatte. Sie hatten überhaupt nichts Bedrohliches an sich, im Gegenteil, sie waren beruhigend rundlich, von mittlerem Alter und gekleidet wie zwei Aushilfslehrer, aber obwohl sie beide ein freundliches Gesicht machten, wusste ich im selben Augenblick, dass mein Leben, wie ich es kannte, vorbei war.
KAPITEL 3
Park Avenue
I
Die Sozialarbeiter setzten mich auf den Rücksitz ihres Kompaktwagens und fuhren mich zu einem Schnellrestaurant nach Downtown, wo sie ihr Büro hatten, einem pseudo-prächtigen Lokal, das von geschliffenen Spiegeln und billigen Chinatown-Kronleuchtern funkelte. Als wir in unserer Nische am Tisch saßen (die beiden nebeneinander auf der einen Seite, mir gegenüber), holten sie Clipboards und Stifte aus ihren Aktentaschen und versuchten, mich dazu zu bringen, dass ich etwas frühstückte, während sie Kaffee tranken und mir Fragen stellten. Draußen war es noch dunkel; die Stadt wachte gerade erst auf. Ich kann mich übrigens nicht erinnern geweint zu haben– oder gegessen, aber nach all den Jahren rieche ich immer noch das Rührei, das sie mir bestellten, und bei der Erinnerung an den vollen Teller mit Bratkartoffeln und an den daraus aufsteigenden Dampf bekomme ich immer noch einen Knoten im Magen.
Das Lokal war fast leer. Verschlafene Küchenhelfer packten hinter der Theke Kartons mit Bagels und Muffins aus. Ein müder Trupp Club-Kids mit verschmierten Lidstrichen hockte zusammengedrängt an einem der Nachbartische. Ich weiß noch, dass ich mit verzweifelter, haltsuchender Aufmerksamkeit zu ihnen hinüberstarrte– ein verschwitzter Junge in einer Mandarin-Jacke, ein zerzaustes Mädchen mit pinkfarbenen Strähnen im Haar–, aber auch zu einer alten Lady in vollem Make-up und einem für das Wetter viel zu warmen Pelzmantel, die allein an der Theke saß und ein Stück Apfeltorte aß.
Die Sozialarbeiter, die kurz davor waren, mich zu schütteln und mit den Fingern vor meinen Augen zu schnipsen, damit ich sie anschaute, schienen zu verstehen, dass ich nicht bereit war aufzunehmen, was sie mir zu sagen versuchten. Sie beugten sich abwechselnd über den Tisch und wiederholten, was ich nicht hören wollte. Meine Mutter war tot. Sie war von fliegenden Trümmerbrocken am Kopf getroffen worden und auf der Stelle gestorben. Es tue ihnen leid, dass sie mir diese Neuigkeit beibringen müssten, es sei das Schlimmste an ihrem Job, aber es sei wirklich, wirklich notwendig, dass ich verstand, was passiert war. Meine Mutter sei tot, und ihr Leichnam liege im New York Hospital. Hatte ich das verstanden?
» Ja « , sagte ich nach einer langen Pause, als mir klar wurde, dass sie es von mir erwarteten. Die unverblümte, hartnäckige Verwendung der Worte Tod und gestorben war nicht in
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