Der Distelfink
diesem Wort kribbelte es in meinem Magen; ich musste an Gerichtszimmer denken, an geschlossene Schlafsäle, an Basketballplätze mit Stacheldrahtzaun.
» Na, dann nennen wir es Fürsorge. Und nur so lange, bis deine Grandma und dein Grandpa… «
» Moment « , sagte ich. Ich war fassungslos angesichts dessen, wie schnell hier alles außer Kontrolle geriet, und angesichts auch der fälschlich angenommenen Wärme und Vertrautheit in der Art, wie er die Worte Grandma und Grandpa aussprach.
» Wir müssen nur eine vorübergehende Lösung finden, bis wir die beiden erreicht haben. « Die Koreanerin beugte sich wieder zu mir herüber. Ihr Atem roch nach Pfefferminz, allerdings mit einer hauchzarten Knoblauchnote. » Wir wissen, wie traurig du sein musst, aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Unsere Aufgabe ist es, auf dich achtzugeben, bis wir die Menschen erreicht haben, die dich lieben und für dich sorgen werden, okay? «
Es war zu furchtbar, um wahr zu sein. Ich starrte die beiden fremden Gesichter mir gegenüber an, die im künstlichen Licht einen Gelbstich hatten. Die bloße Vermutung, Grandpa Decker und Dorothy seien Menschen, die mich liebten, war absurd.
» Aber was passiert denn jetzt mit mir? « , fragte ich.
» Das Wichtigste ist « , sagte Enrique, » dass du vorläufig eine ordentliche Pflegestelle bekommst. Bei jemandem, der Hand in Hand mit dem Jugendamt arbeitet, um einen Fürsorgeplan für dich auf die Beine zu stellen. «
Ihre gemeinsamen Bemühungen, mich zu beruhigen– die leisen, mitfühlenden Stimmen, die vernünftigen Blicke–, trieben mich immer weiter in die Panik. » Lassen Sie das! « , rief ich und riss meine Hand weg, als die Koreanerin über den Tisch langte und fürsorglich danach greifen wollte.
» Hör zu, Teo. Ich will dir etwas erklären. Niemand redet von Haft oder Jugendgewahrsam… «
» Sondern? «
» Von einer vorübergehenden Obhut. Das bedeutet nur, dass wir dich an einen sicheren Ort bringen, zu Leuten, die im Auftrag des Staates die Vormundschaft ausüben… «
» Und wenn ich das nicht will? « , fragte ich so laut, dass die anderen Gäste sich umdrehten und herüberstarrten.
» Pass auf. « Enrique lehnte sich zurück und winkte dem Kellner, damit er noch Kaffee brachte. » Die Stadt hat geprüfte Krisenunterkünfte für Jugendliche in Not. Gute Familien. Und im Moment ist das nur eine der Optionen, die wir uns anschauen. Denn oft ist in Fällen wie deinem… «
» Ich will nicht in eine Pflegefamilie! «
» Kleiner, das willst du echt nicht « , sagte das Club-Girl mit den pinkfarbenen Strähnen am Nachbartisch. Vor kurzer Zeit war die New York Post voll von Geschichten über Johntay und Keshawn Divens gewesen, das elfjährige Zwillingspaar, das oben in der Gegend von Morningside Heights vom Stiefvater vergewaltigt und fast zu Tode gehungert worden war.
Enrique tat, als hätte er nichts gehört. » Schau, wir sind hier, um dir zu helfen. « Er faltete die Hände auf der Tischplatte. » Und wir werden auch andere Alternativen in Betracht ziehen, wenn damit deine Sicherheit gewährleistet und deinen Bedürfnissen entsprochen wird. «
» Sie haben nie gesagt, dass ich nicht wieder nach Hause darf! «
» Tja, die städtischen Einrichtungen sind überlastet– sí, gracias « , sagte er zu dem Kellner, der mit der Kaffeekanne aufgetaucht war. » Aber manchmal kann man auch andere Regelungen finden, wenn wir die vorläufige Genehmigung bekommen, besonders in einer Situation wie deiner. «
» Was er damit sagen will? « Die Koreanerin klopfte mit dem Fingernagel auf die Kunststofftischplatte, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. » Es ist nicht in Stein gemeißelt, dass du ins System wandern musst, wenn es jemanden gibt, der ein Weilchen bei dir bleiben kann. Oder du bei ihm. «
» Ein Weilchen? « , wiederholte ich. Nur dieser Teil des Satzes war zu mir durchgedrungen.
» Vielleicht gibt es ja noch jemanden, den wir anrufen könnten und der dir für einen oder zwei Tage recht wäre? Ein Lehrer zum Beispiel? Oder ein Freund deiner Familie? «
Ohne lange nachzudenken, nannte ich ihnen die Telefonnummer meines alten Freundes Andy Barbour– die erste Nummer, die mir in den Sinn kam, vielleicht weil es die erste Telefonnummer außer meiner eigenen war, die ich auswendig gelernt hatte. Zwar waren Andy und ich auf der Grundschule gute Freunde gewesen (wir waren zusammen ins Kino gegangen, hatten abwechselnd beim einen oder anderen übernachtet und
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