Der Distelfink
vorzeitig weißen Haar hatte er das liebenswerte Aussehen eines weniger bedeutenden Gründervaters, vielleicht ein Hinterbänkler des Kontinentalkongresses, der ins 21.Jahrhundert teleportiert worden war. Was er anhatte, sah aus wie seine Bürokleidung vom Tag zuvor: ein zerknautschtes Oberhemd und eine teuer aussehende Anzughose, die den Eindruck machte, er hätte sie soeben vom Schlafzimmerfußboden aufgehoben.
» Kommen Sie herein « , sagte er munter und rieb sich mit der Faust die Augen. » Hallo, Schätzchen « , sagte er zu mir– und dieses Schätzchen aus seinem Mund klang selbst in meinem desorientierten Zustand erstaunlich.
Er tappte barfuß vor uns her durch die Marmordiele. Dahinter, in dem opulent eingerichteten Wohnzimmer (überall satinierter Chintz und chinesische Gefäße), sah es nicht nach Morgen, sondern nach Mitternacht aus: Lampen mit seidenen Schirmen, gedämpft leuchtend, große düstere Gemälde von Seeschlachten, Vorhänge, die vor der Sonne geschlossen waren. Dort– neben dem Stutzflügel und einem Blumenstrauß in der Größe eines Umzugskartons– stand Mrs. Barbour in einem Morgenmantel, der bis zum Boden reichte, und goss Kaffee in die Tassen auf einem Silbertablett.
Sie drehte sich um und begrüßte uns, und ich spürte, wie die beiden Sozialarbeiter die Wohnung und sie bestaunten. Mrs. Barbour stammte aus einer Society-Familie mit einem alten holländischen Namen und sah so kühl, so blond, so monochrom aus, dass es manchmal den Eindruck erweckte, man habe einen Teil ihres Blutes abgelassen. Sie war ein Meisterwerk der Gefasstheit; nichts brachte sie je durcheinander oder versetzte sie in Aufregung, und obwohl sie nicht schön war, hatte ihre Ruhe die magnetische Anziehungskraft der Schönheit– eine Stille, die so mächtig war, dass die Moleküle sich um sie herum neu ordneten, sobald sie einen Raum betrat. Wie eine zum Leben erwachte Modezeichnung zog sie die Blicke auf sich, wo immer sie war, und glitt scheinbar ahnungslos dahin, ohne zu merken, welche Turbulenzen sie in ihrem Kielwasser hinterließ. Ihre Augen lagen weit auseinander, ihre Ohren waren klein und saßen hoch und sehr eng anliegend am Kopf, und ihr Oberkörper ragte lang gestreckt und schmal über der Taille herauf– wie bei einem eleganten Wiesel. (Andy hatte die gleichen Eigenschaften, aber in ungraziösen Proportionen und ohne ihre geschmeidige, hermelinhafte Anmut.)
In der Vergangenheit hatte mir ihre reservierte Art (oder ihre Kälte– je nachdem, wie man es sehen wollte) manchmal Unbehagen bereitet, aber an diesem Morgen war ich dankbar für ihr sang froid. » Hi. Wir stecken dich zu Andy ins Zimmer « , sagte sie, ohne um den heißen Brei herumzureden. » Er ist aber leider noch nicht für die Schule aufgestanden. Wenn du dich ein Weilchen hinlegen möchtest, bist du herzlich eingeladen, in Platts Zimmer zu gehen. « Platt war Andys großer Bruder, und er war auf dem Internat. » Du weißt selbstverständlich, wo das ist, oder? «
Ich bejahte.
» Hast du Hunger? «
» Nein. «
» Tja, dann. Sag uns, was wir für dich tun können. «
Mir war bewusst, dass alle mich anschauten. Meine Kopfschmerzen waren größer als alles andere im Raum. In einem Bullaugenspiegel über Mrs. Barbours Kopf konnte ich die ganze Szene in panoptikumhafter Verkleinerung abgebildet sehen: chinesische Gefäße, Kaffeetablett, linkisch aussehende Sozialarbeiter, alles.
Am Ende war es Mr. Barbour, der den Bann brach. » Na, dann komm, dann wollen wir dich mal unterbringen. « Er legte mir eine Hand auf die Schulter und bugsierte mich entschlossen hinaus. » Nein– hier hinten, da entlang– nach achtern, achtern. Gleich hier hinten. «
Ich hatte nur ein einziges Mal, mehrere Jahre zuvor, einen Fuß in Platts Zimmer gesetzt, und da hatte Platt– Lacrosse-Meister und leicht psychopathisch– damit gedroht, Andy und mich nach Strich und Faden zu verprügeln. Als er noch zu Hause gewohnt hatte, war er die ganze Zeit hinter verschlossener Tür in diesem Zimmer geblieben (und hatte, wie Andy mir erzählte, Gras geraucht). Jetzt waren alle seine Poster weg, und das Zimmer sah sehr sauber und leer aus, denn er war im Internat in Groton. Ich sah Hanteln, Stapel von alten National Geographics, ein leeres Aquarium. Mr. Barbour öffnete und schloss Schubladen und schwatzte ein bisschen vor sich hin. » Mal sehen, was hier drin ist, ja? Bettwäsche. Und… noch mehr Bettwäsche. Ich komme hier leider nie herein, und ich hoffe, du
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