Der Distelfink
Kleider geschenkt… Du hast deinen Dadso sehr gehasst, aber in mancher Hinsicht war er ein guter Mann. «
» Gut würde ich nicht sagen. «
» Aber ich. «
» Na, dann wärst du der Einzige. Und du wärst im Irrtum. «
» Hör zu. Habe ich mehr Toleranz als du. « Die Aussicht auf einen Streit belebte ihn, und schniefend und schluckend drängte er seine Tränen zurück. » Xandra– dein Dad– immer wolltest du sie böse und schlecht machen. Und ja, dein Dad war destruktiv… verantwortungslos… wie ein Kind. Sein Geist war groß. Hat ihn schrecklich gequält! Aber hat er sich selbst schlimmer verletzt als irgendjemand anderen. Und, jawohl « , sagte er theatralisch über meinen Einwand hinweg, » ja, er hat dich bestohlen, oder hat es versucht, ich weiß, aber weißt du was? Ich hab dich auch bestohlen und bin damit durchgekommen. Was ist schlimmer? Denn ich sage dir « , er stieß mit der Fußspitze gegen die Tasche, » die Welt ist viel seltsamer, als wir wissen oder sagen können. Und ich weiß, wie du denkst oder wie du gern denken möchtest, aber vielleicht ist dies ein Fall, den du nicht auf das reine › Gut ‹ oder › Böse ‹ reduzieren kannst, wie du es immer möchtest. Wie deine › zwei verschiedenen Stapel ‹ ? Schlecht hier, gut da? Ist vielleicht nicht ganz so einfach. Denn– auf der Fahrt hierher, die ganze Nacht am Steuer, Weihnachtsbeleuchtung entlang der Autobahn, und ich schäme mich nicht, dir zu erzählen, dass es mir hat die Kehle zugeschnürt, weil ich an die Geschichte aus der Bibel denken musste, ohne es zu wollen…? Du weißt schon, wo der Verwalter der Witwe ihr Scherflein stiehlt? Aber dann flieht er in fernes Land, investiert das Geld klug und bringt der Witwe, die er hat bestohlen, tausendfach zurück? Und sie verzeiht ihm freudig, und sie schlachten das gemästete Kalb und feiern? «
» Ich glaube, das gehört nicht alles zu derselben Geschichte. «
» Na ja, Bibelstunde, Polen, ist lange her. Trotzdem. Denn was ich sagen will– was ich gestern Nacht im Auto auf der Fahrt von Antwerpen dachte– das Gute kommt nicht immer aus guten Taten, und das Böse nicht immer aus bösen, oder? Auch die Weisen und Guten sehen nicht immer das Ende aller Handlungen. Erschreckender Gedanke! Erinnerst du dich an Fürst Myschkin in › Der Idiot ‹ ? «
» Ich habe jetzt eigentlich keine Lust auf ein intellektuelles Gespräch. «
» Ich weiß, ich weiß, aber hör mir zu. Du hast gelesen Der Idiot, ja? Ja. Na, für mich war › Idiot ‹ ein sehr beunruhigendes Buch. War so beunruhigend, dass ich danach eigentlich nicht mehr viele Romane gelesen habe, außer so Drachen-Tattoo-Sachen. Denn « , ich versuchte ihn zu unterbrechen, » ja, vielleicht kannst du mir nachher erzählen, was du dachtest, aber jetzt will ich dir sagen, warum ich es beunruhigend fand. Weil alles, was Myschkin getan hat, war gut… selbstlos… er behandelte alle Menschen mit Verständnis und Mitgefühl, und was resultiert aus diesem Gutsein? Mord! Katastrophe! Darüber hab ich mir viel den Kopf zerbrochen. Hab ich nachts wach gelegen und mir den Kopf zerbrochen! Denn– warum? Wie konnte das sein? Ich habe das Buch bestimmt dreimal gelesen und immer gedacht, ich hab’s nicht richtig verstanden. Myschkin war gut, er liebte alle, war sanftmütig, hat immer verziehen, nie etwas Unrechtes getan– aber er vertraute den falschen Leuten, traf lauter schlechte Entscheidungen, verletzte alle um ihn herum. Sehr düstere Message, dieses Buch hat. › Warum gut sein? ‹ Aber Folgendes überkam mich letzte Nacht im Auto auf der Fahrt hierher. Was ist– was ist, wenn es komplizierter ist? Was ist, wenn vielleicht auch das Gegenteil zutrifft? Denn wenn aus guten Taten manchmal auch Böses kommen kann…? Wo steht denn, dass aus bösen Taten nur Böses kommen kann? Vielleicht manchmal– der falsche Weg ist der richtige Weg? Du nimmst den falschen Weg und kommst trotzdem da an, wo du hinwolltest? Oder, anders gesagt, manchmal machst du alles falsch, und es wird trotzdem richtig? «
» Ich weiß nicht genau, worauf du hinauswillst. «
» Na– ich muss sagen, ich persönlich habe nie eine so scharfe Grenze zwischen › gut ‹ und › böse ‹ gezogen. Für mich ist diese Grenze oft falsch. Die beiden Seiten sind niemals unverbunden. Das eine kann nicht ohne das andere existieren. Solange ich aus Liebe handele, glaube ich, dass ich mein Bestes tue. Aber du– immer bist du in deinem Urteil befangen, immer bereust du
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