Der Distelfink
egal, wenn sie zum Anzug beschissen aussehen. Solche Stiefel suche ich mir wieder, und dann trage ich sie den Rest meines Lebens. « Stirnrunzelnd sah er auf die Uhr. » Wo bleibt Juri? Er dürfte am Weihnachtstag doch keine so großen Probleme mit dem Parken haben? «
» Hast du ihn denn angerufen? «
Boris schlug sich an die Stirn. » Nein, hab ich vergessen. Scheiße! Wahrscheinlich hat er schon gefrühstückt. Oder er sitzt im Auto und erfriert. « Er trank seinen Wein aus und steckte die Wodka-Minis in die Tasche. » Hast du gepackt? Ja? Fantastisch. Dann können wir gehen. « Ich sah, dass er übrig gebliebene Brötchen und Käse in eine Stoffserviette einwickelte. » Geh runter und bezahl deine Rechnung. Obwohl « , er warf einen missbilligenden Blick auf den fleckigen Mantel auf meinem Bett, » das Ding da musst du wirklich loswerden. «
» Wie denn? «
Er deutete mit dem Kopf auf das trübe Wasser der Gracht vor dem Fenster.
» Im Ernst? «
» Warum nicht? Ist doch nicht verboten, einen Mantel in die Gracht zu werfen, oder? «
» Ich hätte gedacht, doch. «
» Na– wer weiß. Ist aber kein besonders wichtiges Gesetz, wenn du mich fragst. Du hättest mal sehen sollen, was für ein Scheiß da rumschwamm, als die Müllabfuhr gestreikt hat. Besoffene Amerikaner kotzen auch rein. Alles, was du willst. Allerdings « , er warf noch einen Blick aus dem Fenster, » ich gebe dir recht, du solltest es lieber nicht am helllichten Tag tun. Wir können ihn im Kofferraum mit nach Antwerpen nehmen und da in die Müllverbrennung werfen. Meine Wohnung wird dir sehr gefallen. « Er angelte sein Telefon aus der Tasche und wählte. » Ein Künstlerloft ohne die Kunst! Und wir ziehen los und kaufen dir einen neuen Mantel, wenn die Geschäfte wieder offen sind. «
VI
Zwei Tage später nahm ich den Nachtflug nach Hause (der Zweite Weihnachtstag in Antwerpen hatte ohne Party und Escortservice stattgefunden, dafür mit Dosensuppe, einer Penicillin-Spritze und ein paar alten Filmen auf Boris’ Couch), und gegen acht Uhr morgens war ich wieder bei Hobie. Mein Atem wehte in weißen Wolken vor mir her, als ich die mit Tannengrün umkränzte Haustür aufschloss und durch den Salon mit dem dunklen, von fast allen Weihnachtsgeschenken geplünderten Baum in den hinteren Teil des Hauses ging, wo Hobie mit verquollenem Gesicht und schlaftrunkenen Augen in Bademantel und Pantoffeln auf einer Küchenleiter stand, um die Suppenterrine und die Punschbowle wegzuräumen, die er bei seinem Weihnachtslunch benutzt hatte. » Hi « , sagte ich, ließ meine Reisetasche fallen und wurde sofort von Poptschik belagert, der zur Begrüßung in strammen geriatrischen Achten um meine Füße kreiste– und erst als ich zu Hobie hinaufschaute und er die Leiter herunterstieg, sah ich, wie entschlossen er aussah: beunruhigt, aber mit einem festen, abwehrenden Lächeln auf dem Gesicht.
» Und du? « Ich richtete mich auf, zog meinen neuen Mantel aus und hängte ihn über einen Stuhl. » Ist was los? «
» Nicht viel. « Er sah mich nicht an.
» Frohe Weihnachten. Na ja– ein bisschen verspätet. Wie war Weihnachten? «
» Gut. Und bei dir? « , erkundigte er sich steif ein paar Augenblicke später.
» Eigentlich nicht so schlecht. Ich war in Amsterdam « , fügte ich hinzu, als er nicht antwortete.
» Ach, wirklich? Das muss nett gewesen sein. « Abgelenkt, unkonzentriert.
» Wie war dein Lunch? « , fragte ich nach einer vorsichtigen Pause.
» Oh, sehr gut. Wir hatten etwas Schneeregen, aber es war eine nette Runde. « Er wollte die Küchenleiter zusammenklappen, aber es ging nicht so, wie er wollte. » Da sind noch ein paar Geschenke für dich unter dem Baum, falls du Lust hast, sie auszupacken. «
» Danke. Ich mach’s heute Abend. Bin ziemlich erledigt. Kann ich dir helfen mit dem Ding? « Ich trat einen Schritt vor.
» Nein, nein. Nein, danke. « Dass etwas nicht in Ordnung war, hörte ich an seiner Stimme. » Ich schaff das schon. «
» Okay. « Ich fragte mich, warum er das Geschenk nicht erwähnte, das er von mir bekommen hatte: ein Stickmustertuch, eine Kinderarbeit mit rankenverziertem Alphabet und Zahlen und stilisierten Bauernhoftieren aus Wollgarn, Marry Sturtevant ihr Muste-r 11 Jahre 1779. Hatte er es nicht ausgepackt? Ich hatte es in einer Kiste mit Großmutterunterhosen aus Polyester auf dem Flohmarkt gefunden– nicht billig für den Flohmarkt, vierhundert Dollar, aber ich hatte vergleichbare Stücke auf
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