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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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siehst es mir nach, wenn ich– ah. Eine Badehose! Die brauchen wir heute Morgen nicht, was? « Er durchwühlte die dritte Schublade und entdeckte endlich einen neuen Schlafanzug, an dem noch die Etiketten hingen: von höllischer Hässlichkeit, Rentiere auf blauem Flanell. Es war kein Rätsel, warum er nie getragen worden war.
    » Tja, dann. « Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar und warf einen bangen Blick zur Tür. » Jetzt lasse ich dich allein. Verfluchte Sache, was da passiert ist, guter Gott. Muss schrecklich hart für dich sein. Ein guter, tiefer Schlaf, das ist jetzt das Beste auf der Welt für dich. Bist du müde? « Er sah mich forschend an.
    War ich müde? Ich war hellwach, und trotzdem war ein Teil von mir wie hinter einer Glaswand und so betäubt, dass ich praktisch im Koma lag.
    » Aber wenn du lieber Gesellschaft haben möchtest? Vielleicht könnte ich im anderen Zimmer Feuer machen? Sag mir, was du willst. «
    Bei dieser Frage überkam mich stechende Verzweiflung– denn so schlecht ich mich auch fühlte, er konnte nichts für mich tun, und ich sah seinem Gesicht an, dass er das ebenfalls wusste.
    » Wir sind gleich nebenan, wenn du uns brauchst– das heißt, ich gehe bald zur Arbeit, aber jemand wird da sein… « Sein heller Blick huschte im Zimmer umher und kehrte dann zu mir zurück. » Vielleicht ist es nicht korrekt von mir, aber unter diesen Umständen wüsste ich nicht, was es schaden sollte, dir einzuschenken, was mein Vater immer ein unbedeutendes Schlückchen nannte. Falls du so etwas haben möchtest. Was du natürlich nicht möchtest « , fügte er hastig hinzu, als er meine Verwirrung sah. » Gänzlich unpassend. Vergiss es. «
    Er kam näher heran, und einen unbehaglichen Augenblick lang dachte ich, er werde mich anfassen oder vielleicht umarmen. Aber stattdessen klatschte er in die Hände und rieb sie aneinander. » Wie auch immer. Wir sind sehr froh, dich bei uns zu haben, und ich hoffe, du machst es dir hier so bequem, wie es nur geht. Sag nur gleich Bescheid, wenn du etwas brauchst, ja? «
    Er war kaum draußen, als ich vor der Tür ein Getuschel hörte. Dann klopfte es. » Hier ist jemand für dich « , sagte Mrs. Barbour und zog sich wieder zurück.
    Und herein stapfte Andy. Blinzelnd fummelte er mit seiner Brille herum. Es war klar, dass sie ihn geweckt und aus dem Bett gezerrt hatten. Die Matratzenfedern knarrten geräuschvoll, als er sich zu mir auf die Kante von Platts Bett setzte. Er sah nicht mich, sondern die Wand gegenüber an.
    Er räusperte sich und schob die Brille auf dem Nasenrücken herauf. Dann folgte ein langes Schweigen. Die Heizung klopfte und zischte metallisch. Seine Eltern waren so schnell verschwunden, als hätten sie einen Feueralarm gehört.
    » Wow « , sagte er nach einer Weile mit seiner gespenstisch flachen Stimme. » Beunruhigend. «
    » Ja « , sagte ich, und dann saßen wir schweigend nebeneinander und starrten auf die dunkelgrüne Wand von Platts Zimmer und die von Klebstreifen begrenzten Rechtecke, wo seine Poster gehangen hatten. Was gab es auch sonst zu sagen?
    III
    Noch heute erfüllt die Erinnerung an diese Zeit mich mit dem hoffnungslosen Gefühl, ersticken zu müssen. Alles war schrecklich. Die Leute boten mir kalte Getränke, zusätzliche Pullover und Esswaren an, die ich nicht herunterbrachte: Bananen, Cup Cakes, Club Sandwiches, Eis. Ich sagte Ja und Nein, wenn man mich ansprach, und starrte oft lange auf den Teppich, damit man nicht sah, dass ich geweint hatte.
    Das Apartment der Barbours war zwar nach New Yorker Maßstäben riesig, aber es lag in einem unteren Stockwerk und war praktisch lichtlos, sogar zur Park Avenue hin. Es wurde nie ganz Nacht und nie richtig Tag, aber der Lampenschein auf poliertem Eichenholz vermittelte die gesellige, sichere Atmosphäre eines privaten Clubs. Platts Freunde nannten es das » Spukatorium « , und mein Vater, der mich ein oder zwei Mal abgeholt hatte, wenn ich dort übernachtet hatte, hatte es » Frank E. Campbell’s « getauft, nach der Bestattungsfirma. Aber ich fand Trost in der massiven, opulenten Vorkriegsdüsternis, in die man sich leicht zurückziehen konnte, wenn man keine Lust hatte, zu reden oder sich anstarren zu lassen.
    Leute kamen mich besuchen– meine Sozialarbeiter natürlich und ein Psychiater, der ehrenamtlich arbeitete und mir von der Stadt zugewiesen worden war, aber auch Leute aus der Firma meiner Mutter (von denen ich ein paar, zum Beispiel Mathilde, ausgezeichnet hatte

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