Der Distelfink
Decker)– also während eines ganzen Jahres (in unserer » Babylonischen Gefangenschaft « , wie Andy es mit leiser, düsterer Stimme nannte) hatten wir uns Seite an Seite vorangekämpft wie zwei schwächliche Ameisen unter dem Brennglas. Ans Schienbein getreten, in den Bauch geboxt, von allen geschnitten, hatten wir uns in der Mittagspause in die entlegensten Ecken verdrückt, die wir finden konnten, damit wir nicht mit Ketchuppäckchen und Chicken Nuggets beworfen wurden. Fast zwei Jahre lang war er mein einziger Freund gewesen und ich seiner. Es war deprimierend und peinlich, mich an diese Zeit zu erinnern– an unsere Autobot-Kriege und Lego-Raumschiffe, an die Geheimidentitäten, die wir aus den klassischen Star Trek -Folgen entlehnt hatten (ich war Kirk, und er war Spock), um aus unseren Qualen ein Spiel zu machen. Captain, mir scheint, diese Aliens halten uns gefangen in einem Simulacrum ihrer Schulen für Menschenkinder, auf der Erde.
Bevor man mich mit dem Schild » Begabt « um den Hals zu einer zusammengeschweißten Bande von älteren Jungen gesperrt hatte, war ich in der Schule nie nennenswert geschmäht oder gedemütigt worden. Der arme Andy dagegen war schon, bevor er die Klasse übersprungen hatte, ein Kind gewesen, auf dem chronisch herumgehackt wurde: mager, nervös, laktoseintolerant, mit bleicher, fast durchsichtiger Haut und der Neigung, in beiläufigen Unterhaltungen Wörter wie » toxisch « und » chthonisch « fallen zu lassen. So gescheit er war, so ungeschickt war er auch, und seine flache Stimme und die Gewohnheit, wegen einer chronisch verstopften Nase durch den Mund zu atmen, ließen ihn eher ein bisschen blöd als übermäßig intelligent erscheinen. Unter seinen katzenhaften, scharfzahnigen, athletischen Geschwistern– unermüdlich hin und her unterwegs zwischen Freunden, Sportmannschaften und gewinnbringenden Nachmittagsprogrammen– ragte er heraus wie irgendein Vollpfosten, der aus Versehen auf den Lacrosse-Platz hinausspaziert war.
Anders als Andy hatte ich es geschafft, mich von der Katastrophe der fünften Klasse wenigstens einigermaßen zu erholen. Er blieb freitags und samstags abends zu Hause und wurde niemals zu Partys oder zum Abhängen im Park eingeladen. Soweit ich wusste, war ich immer noch sein einziger Freund. Dank seiner Mutter hatte er zwar die richtigen Klamotten und kleidete sich wie die allseits beliebten Schüler– manchmal trug er sogar Kontaktlinsen–, aber davon ließ sich niemand täuschen: Feindselige Sportlertypen, die sich an die schlechten alten Zeiten erinnerten, schubsten ihn immer noch herum und nannten ihn » C-3 PO « , weil er vor langer Zeit mal den Fehler begangen hatte, in einem Star Wars -T-Shirt zur Schule zu kommen.
Andy war nie übermäßig gesprächig gewesen, selbst als Kind nicht, von gelegentlichen Ausbrüchen unter Druck abgesehen (unsere Freundschaft hatte zum großen Teil darin bestanden, dass wir wortlos Comichefte hin und her reichten). Die jahrelangen Schikanen in der Schule hatten ihn noch wortkarger und unkommunikativer werden lassen; seine Neigung zu Lovecraft-Vokabeln war geringer geworden, und er vergrub sich stattdessen in Fortgeschrittenenkursen in Mathematik und Naturwissenschaften. Mathe hatte mich nie besonders interessiert (ich war das, was man als sprachlich begabt bezeichnete), aber während ich die früh geweckten akademischen Erwartungen nie erfüllt hatte, in keinem Fach, und mich auch nicht für gute Noten interessierte, wenn ich dafür arbeiten musste, war Andy überall im Fortgeschrittenenkurs und der Beste in unserer Klasse. Er wäre sicher auch wie Platt nach Groton geschickt worden– eine Aussicht, die ihm schon im dritten Schuljahr schreckliche Angst einjagte–, wenn seine Eltern nicht einigermaßen berechtigte Bedenken gehabt hätten, einen Sohn aufs Internat zu schicken, der von seinen Klassenkameraden so sehr drangsaliert wurde, dass er in der Pause einmal fast erstickt wäre, weil man ihm eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt hatte. Es gab auch noch andere Gründe zur Sorge: Ich wusste von Mr. Barbours Aufenthalt in der » Klapse « , weil Andy mir auf seine sachlich-nüchterne Art erzählt hatte, seine Eltern befürchteten, er könne etwas von dieser » Anfälligkeit « , wie er es nannte, geerbt haben.
Als er seine Zeit statt in der Schule mit mir zu Hause verbrachte, entschuldigte er sich, weil er lernen musste, » aber unglücklicherweise ist es notwendig « , sagte er schniefend und
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