Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. Seine Unterrichtsbelastung sei ungeheuer anspruchsvoll ( » die Hölle auf Rädern für Fortgeschrittene « ), und er könne sich nicht leisten, auch nur einen Tag zurückzubleiben. Während er sich mit scheinbar endlosen Mengen von Schularbeiten plagte (Chemie und Analysis, amerikanische Geschichte, Englisch, Astronomie und Japanisch), saß ich auf dem Boden, an seine Kommode gelehnt, und zählte lautlos vor mich hin: Um diese Zeit vor drei Tagen hat sie noch gelebt, um diese Zeit vor vier Tagen, vor einer Woche. Im Geiste ging ich die Mahlzeiten durch, die wir in den Tagen vor ihrem Tod zu uns genommen hatten: unser letzter Besuch im griechischen Bistro, unser letzter Besuch im Shun Lee Palace, das letzte Essen, das sie für mich gekocht hatte (Spaghetti Carbonara), und das letzte davor (ein Gericht namens Chicken Indienne, das sie von ihrer Mutter zu Hause in Kansas gelernt hatte). Manchmal blätterte ich, um beschäftigt auszusehen, in alten Fullmetal Alchemist -Heften oder im illustrierten H.G. Wells, das er in seinem Zimmer hatte, aber selbst die Bilder waren mehr, als ich aufnehmen konnte. Meistens starrte ich hinaus zu den flatternden Tauben auf dem Fenstersims, während Andy endlose Tabellen in seinem Hiragana-Arbeitsbuch ausfüllte und beim Arbeiten mit dem Knie unter dem Schreibtisch wippte.
    Andys Zimmer– ursprünglich Teil eines großen Schlafzimmers, das die Barbours halbiert hatten– blickte auf die Park Avenue hinaus. Im Berufsverkehr dröhnten Hupen vor dem Fußgängerüberweg, und das Licht brannte golden in den Fenstern auf der anderen Straßenseite und erstarb etwa um die gleiche Zeit, als der Verkehr nachließ. Während die Nacht ihren Lauf nahm (phosphoreszierend im Licht der Straßenlaternen, eine violette Großstadt-Mitternacht, die niemals ganz schwarz wurde), drehte ich mich hin und her, und die Decke, so dicht über dem Etagenbett, lastete manchmal so schwer auf mir, dass ich beim Aufwachen sicher war, unter dem Bett zu liegen statt darauf.
    Wie war es möglich, jemanden so zu vermissen, wie ich meine Mutter vermisste? Ich vermisste sie so sehr, dass ich sterben wollte. Es war eine harte, körperliche Sehnsucht wie das Verlangen nach Luft unter Wasser. Wenn ich wach lag, versuchte ich, meine besten Erinnerungen an sie heraufzubeschwören– und in meinem Kopf einzufrieren, damit ich sie nie vergessen könnte–, aber statt mich an Geburtstage und glückliche Zeiten zu erinnern, dachte ich immer wieder an Augenblicke wie den, der ein paar Tage vor ihrem Tod stattgefunden hatte: Sie hatte mich auf halbem Weg aufgehalten, als ich die Wohnung verlassen wollte, und mir einen losen Faden von meiner Schuljacke gezupft. Aus irgendeinem Grund war das eine meiner klarsten Erinnerungen an sie: die zusammengezogenen Brauen, die präzise Geste der ausgestreckten Hand, alles. Ein paar Mal, wenn ich unbehaglich zwischen Traum und Schlaf hin und her driftete, saß ich plötzlich aufrecht im Bett, weil ich im Kopf ganz deutlich ihre Stimme gehört hatte– Bemerkungen, die sie möglicherweise irgendwann gemacht hatte, an die ich mich aber gar nicht erinnerte, zum Beispiel Wirf mir einen Apfel herüber, ja? und Knöpft man das wohl vorn oder eher hinten zu? und Dieses Sofa ist in einem schrecklichen Zustand der Unansehnlichkeit.
    Das Licht von der Straße wehte in schwarzen Streifen über den Boden. Ohne Hoffnung dachte ich an mein leeres Zimmer, das nur ein paar Straßen weit entfernt war, an mein schmales Bett mit der verschlissenen roten Steppdecke. Sterne aus dem Planetarium, die im Dunkeln leuchteten, eine Bildpostkarte mit James Whales Frankenstein. Die Vögel im Park waren wieder da, die Narzissen blühten. In dieser Jahreszeit standen wir morgens, wenn das Wetter schön war, manchmal extrafrüh auf und gingen zusammen durch den Park, statt mit dem Bus zur West Side zu fahren. Wenn ich doch nur zurückgehen und verändern könnte, was passiert war. Es irgendwie verhindern. Warum hatte ich nicht darauf bestanden, frühstücken zu gehen, statt ins Museum? Warum hatte Mr. Beeman uns nicht am Dienstag zu sich kommen lassen oder am Donnerstag?
    Entweder am zweiten Abend nach dem Tod meiner Mutter oder am dritten– jedenfalls einige Zeit, nachdem Mrs. Barbour mit mir zum Arzt gegangen war, damit er meine Kopfschmerzen behandelte– gaben die Barbours in ihrer Wohnung eine große Party, die sie nicht mehr absagen konnten. Es gab ein Geflüster, hektischen

Weitere Kostenlose Bücher