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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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auch, von dem Augenblick an, als ich die hell erleuchtete Eingangshalle betrat und den vertrauten alten Schulgeruch roch: Desinfektionsmittel mit Zitronenduft und so etwas wie alte Socken. Handgeschriebene Anschläge auf dem Flur: Anmeldeformulare für Tennisgruppen und Kochkurse, Vorsprechtermine für Ein seltsames Paar, eine Exkursion nach Ellis Island, und es gab noch Tickets für das » Swing in den Frühling « -Konzert. Kaum zu fassen: Die Welt war untergegangen, und diese lächerlichen Aktivitäten gingen immer noch knirschend weiter.
    Seltsam – als ich das letzte Mal in diesem Gebäude gewesen war, hatte sie noch gelebt. Der Gedanke kam mir immer wieder, jedes Mal mit etwas Neuem: als ich das letzte Mal diesen Spind aufgeschlossen habe, als ich das letzte Mal dieses blöde Scheißbuch Einsichten in die Biologie angefasst habe, als ich das letzte Mal gesehen habe, wie Lindy Maisel sich mit diesem Plastikstäbchen Lipgloss auftrug. Es war schwer zu glauben, dass ich diesen Augenblicken nicht zurück in eine Welt folgen konnte, in der sie nicht tot war.
    » Tut mir leid. « Leute, die ich kannte, sagten es, aber auch Leute, mit denen ich noch nie im Leben gesprochen hatte. Diejenigen, die lachend und quatschend auf dem Flur herumstanden, verstummten und warfen mir ernste oder wissende Blicke zu. Wieder andere ignorierten mich komplett, wie spielende Hunde einen kranken oder verletzten Hund in ihrer Mitte ignorieren: Sie schauten mich nicht an, sondern tobten und tollten auf dem Flur um mich herum, als wäre ich gar nicht da.
    Vor allem Tom Cable ging mir so geflissentlich aus dem Weg, als wäre ich ein Mädchen, das er abserviert hatte. In der Mittagspause war er nirgends zu sehen. Im Spanisch-Unterricht (er kam hereinspaziert, als der Unterricht längst angefangen hatte, und versäumte die beklommene Szene, in der sich alle mit ernsten Mienen um meinen Tisch versammelten und mir sagten, es tue ihnen leid) saß er nicht neben mir wie sonst, sondern hing vorn auf einem Stuhl und streckte die Beine zur Seite weg. Der Regen trommelte an die Fensterscheiben, während wir eine Serie von bizarren Sätzen ins Englische übertragen mussten– Sätze, die Salvador Dalí stolz gemacht hätten: von Hummern und Strandschirmen und von Marisol mit den langen Wimpern, die mit dem limettengrünen Taxi zur Schule fuhr.
    Nach der Stunde ging ich absichtlich nach vorn und sagte Hallo, als er seine Bücher zusammenpackte.
    » Oh, hey, wie geht’s denn « , sagte er distanziert, lehnte sich zurückund zog klugscheißerisch die Brauen hoch. » Ich hab schon gehört. «
    » Yeah. « So lief das zwischen uns ab: Wir waren zu cool für alle anderen, immer auf einer Wellenlänge.
    » Echtes Pech. Was für ein Mist. «
    » Danke. «
    » Hey, du hättest einen auf krank machen sollen. Hab’s doch gesagt! Meine Mom ist auch ausgerastet bei diesem ganzen Scheiß. Ist voll an die Decke gegangen, verdammt! Na ja, äh… « , sagte er, und halb achselzuckend in dem betäubten Augenblick, der darauf folgte, schaute er hoch, herunter und um sich herum, und sein Gesicht fragte: Wer – ich?, als habe er einen Schneeball mit einem Stein darin geworfen.
    » Jedenfalls. Also « , sagte er in einem Weiter geht’s-Tonfall. » Was soll das Kostüm? «
    » Was? «
    » Na ja « , mit einem ironischen kleinen Schritt rückwärts beäugte er den karierten Dufflecoat, » auf jeden Fall Platz eins im Platt-Barbour-Lookalike-Contest. «
    Und wider Willen– ein Schock nach Tagen des Grauens und der Betäubung, ein explosiver, Tourette-artiger Krampfanfall– musste ich lachen.
    » Ausgezeichneter Versuch, Cable « , sagte ich mit Platts verhasstem Näseln. Wir waren gute Schauspieler, alle beide, und oft führten wir ganze Gespräche mit den Stimmen anderer Leute: dummer Nachrichtensprecher, winselnder Mädchen, einfältig sich anbiedernder Lehrer. » Morgen verkleide ich mich als du. «
    Aber Tom antwortete nicht mit gleicher Münze und nahm den Faden auch nicht auf. Er hatte das Interesse verloren. » Äh, eher nicht « , sagte er, wieder halb achselzuckend und mit spöttischem Grinsen. » Später vielleicht. «
    » Ja, später vielleicht. « Ich war sauer– was zum Teufel war sein Problem? Aber es gehörte zu unserer andauernden schwarzen Komödie, die niemanden außer uns amüsierte, dass wir uns beschimpften und beleidigten, und ich war ziemlich sicher, er würde mich nach der Englischstunde suchen kommen oder mich auf dem Heimweg erwischen, würde

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