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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Wirbel, aber ich konnte kaum etwas aufnehmen. » Ich glaube « , sagte Mrs. Barbour, als sie in Andys Zimmer kam, » du und Theo, ihr beide würdet vielleicht gern hier hinten bleiben. « Dem entspannten Ton zum Trotz war es offensichtlich kein Vorschlag, sondern ein Befehl. » Es wird so langweilig werden, und ich glaube, es wird euch wirklich keinen Spaß machen. Ich werde Etta sagen, sie soll euch zwei Teller aus der Küche bringen. «
    Andy und ich saßen nebeneinander auf dem unteren Bett und aßen Cocktailhäppchen mit Krabben und Artischocken von einem Pappteller– besser gesagt, er aß, während ich meinen Teller auf den Knien balancierte und nichts anrührte. Er hatte eine DVD eingelegt, irgendeinen Actionfilm mit explodierenden Robotern, in dem es Stahl und Feuer vom Himmel regnete. Aus dem Wohnzimmer kam das Geräusch von klingenden Gläsern, der Duft von Kerzenwachs und Parfüm, und ab und zu erhob sich eine Stimme in hellem Lachen. Das funkelnde, flott arrangierte » It’s All Over Now, Baby Blue « des Pianisten schien aus einem alternativen Universum hereinzuschweben. Alles war verloren, ich war von der Landkarte heruntergefallen: Das desorientierende Gefühl, in der falschen Wohnung bei der falschen Familie zu sein, ermüdete mich, und ich war groggy und angeschlagen, beinahe weinerlich, wie ein Gefangener im Verhör, der seit Tagen nicht mehr hatte schlafen dürfen. Immer wieder dachte ich: Ich muss nach Hause, und dann, zum millionsten Mal: Aber ich kann nicht.
    IV
    Nach vier Tagen, vielleicht auch nach fünf, packte Andy seine Bücher in seinen ausgeleierten Rucksack und ging wieder in die Schule. Den ganzen Tag und auch den nächsten verbrachte ich in seinem Zimmer vor dem Fernseher und sah » Turner Classic Movies « , den Sender, den meine Mutter immer einschaltete, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. Sie zeigten Graham-Greene-Verfilmungen: Ministerium der Angst, Der menschliche Faktor, Kleines Herz in Not, Das Attentat. Am zweiten Abend, als ich darauf wartete, dass Der dritte Mann anfing, schaute Mrs. Barbour (valentinomäßig gestylt und auf dem Weg zu einem Event im Museum Frick) kurz in Andys Zimmer herein und gab bekannt, ich müsse am nächsten Tag wieder zur Schule gehen. » Jeder würde sich unwohl fühlen « , sagte sie, » so allein hier zu Hause. Das tut dir nicht gut. «
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Allein herumzusitzen und fernzusehen, war seit dem Tod meiner Mutter das Einzige, was sich wenigstens einigermaßen normal anfühlte.
    » Es wird höchste Zeit, dass du wieder zu einer Art Alltagsroutine zurückkehrst. Morgen. Ich weiß, es kommt dir nicht so vor, Theo « , fuhr sie fort, als ich nicht antwortete, » aber Beschäftigung ist das Einzige auf der Welt, bei dem es dir besser gehen wird. «
    Entschlossen starrte ich auf den Fernseher. Seit dem Tag vor dem Tod meiner Mutter war ich nicht mehr in der Schule gewesen, und solange ich dort wegblieb, schien mir ihr Tod irgendwie noch nicht offiziell zu sein. Wenn ich wieder hinginge, wäre es eine öffentliche Tatsache. Schlimmer noch: Die Vorstellung, zu irgendeiner Art von Alltagsroutine zurückzukehren, kam mir illoyal und falsch vor. Es war immer noch ein Schock, jedes Mal, wenn ich mich daran erinnerte– ein neuer Schlag ins Gesicht: Sie war fort. Jedes neue Ereignis– alles, was ich in meinem restlichen Leben tat– würde uns nur weiter voneinander trennen, und die Tage, an denen sie nicht mehr teilnahm, würden den Abstand zwischen uns wachsen lassen. Für den Rest meines Lebens würde sie mit jedem einzelnen Tag weiter von mir wegrücken.
    » Theo. «
    Erschrocken schaute ich zu ihr auf.
    » Einen Schritt nach dem anderen. Nur so bringt man es hinter sich. «
    Am nächsten Tag brachten sie einen Spionagefilm-Marathon über den 2.Weltkrieg ( Cairo, The Hidden Enemy, Codename: Emerald ), und ich wollte wirklich gern zu Hause bleiben, um es zu sehen. Aber stattdessen schleppte ich mich aus dem Bett, als Mr. Barbour den Kopf zur Tür hereinschob, um uns zu wecken ( » Auf und zum Angriff, Hopliten! « ), und ging mit Andy zur Bushaltestelle. Es war ein regnerischer Tag und so kalt, dass Mrs. Barbour mich gezwungen hatte, einen peinlichen alten Dufflecoat von Platt über meine eigenen Sachen zu ziehen. Andys kleine Schwester Kitsey tanzte in ihrem pinkfarbenen Regenmantel vor uns her, hüpfte durch die Pfützen und tat, als gehöre sie nicht zu uns.
    Ich wusste, es würde furchtbar werden, und das war es

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