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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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der Großeltern Decker, gefreut hatte, bereitete mir die Frage, was aus mir werden würde, allmählich ernsthafte Sorgen. Anscheinend waren alle zutiefst entsetzt über den Vorschlag mit dem Holiday Inn, als hätten Grandpa Decker und Dorothy angeboten, mich in einem Schuppen in ihrem Garten unterzubringen, aber mir kam die Sache gar nicht so übel vor. Ich hatte immer gern in einem Hotel wohnen wollen, und selbst wenn das Holiday Inn nicht die Sorte Hotel war, die mir vorschwebte, ließe es sich dort doch sicher aushalten: Hamburger vom Zimmerservice, Bezahlfernsehen, ein Pool im Sommer– wie schlecht konnte das sein?
    Alle (die Sozialarbeiter, Dave, der Psychiater, Mrs. Barbour) erzählten mir immer wieder, ich könne unmöglich allein in einem Holiday Inn im ländlichen Maryland wohnen, und ganz gleich, wie alles weiterginge, dazu würde es niemals kommen. Anscheinend war ihnen nicht klar, dass ihre tröstlich gemeinten Worte meine Bangigkeit nur hundertfach verstärkten. » Eins darfst du nie vergessen « , sagte Dave, der Psychiater, der mir von der Stadt zugewiesen worden war. » Man wird unter allen Umständen für dich sorgen. « Er war ein Typ in den Dreißigern in dunkler Kleidung und mit einer trendigen Brille, der immer so aussah, als komme er soeben von einer Lyriklesung im Keller einer Kirche. » Denn es gibt jede Menge Leute, die sich um dich kümmern und die nur dein Bestes wollen. «
    Ich war inzwischen misstrauisch gegen Fremde, die sich darüber unterhielten, was das Beste für mich sei, denn genau davon hatten auch die Sozialarbeiter geredet, bevor das Thema Pflegefamilie zur Sprache gekommen war. » Aber– ich finde, meine Großeltern haben nicht ganz unrecht « , sagte ich.
    » Womit? «
    » Mit dem Holiday Inn. Könnte ganz okay für mich sein. «
    » Willst du damit sagen, bei deinen Großeltern zu Hause wäre es nicht okay für dich? « , fragte Dave, ohne zu zögern.
    » Nein! « Genau das konnte ich an ihm nicht ausstehen: Ständig legte er mir Worte in den Mund.
    » Na gut. Vielleicht können wir es anders formulieren. « Er verschränkte die Hände und überlegte. » Warum würdest du lieber in einem Hotel als bei deinen Großeltern wohnen? «
    » Das habe ich nicht gesagt. «
    Er legte den Kopf schräg. » Nein, aber du fängst immer wieder mit dem Holiday Inn an, als wäre das eine gangbare Möglichkeit, und dabei höre ich heraus, dass es dir lieber wäre. «
    » Ich finde es viel besser, als in eine Pflegefamilie zu gehen. «
    » Ja « , er beugte sich vor, » aber bitte hör mir jetzt zu. Du bist erst dreizehn. Und du hast soeben deine primäre Betreuungsperson verloren. Allein zu leben, ist im Moment wirklich keine Option für dich. Ich will damit nur sagen, es ist schade, dass deine Großeltern sich mit diesen Gesundheitsproblemen zu plagen haben, aber glaub mir, wir können ganz sicher einen besseren Weg finden, wenn deine Großmutter wieder auf dem Damm ist. «
    Ich sagte nichts. Offensichtlich hatte er Grandpa Decker und Dorothy nicht kennengelernt. Ich hatte zwar selbst auch noch nicht viel von ihnen gesehen, aber meine wichtigste Erinnerung war die an die komplette Abwesenheit jedes Gefühls von Blutsverwandtschaft zwischen uns, an den undurchsichtigen Blick, mit dem sie mich angesehen hatten, als wäre ich ein x-beliebiger Bengel, der aus der Shopping Mall herüberspaziert war. Die Aussicht darauf, bei ihnen zu leben, war beinahe buchstäblich unvorstellbar, und ich hatte mir das Hirn zermartert, um mich so gut wie möglich an meinen letzten Besuch bei ihnen zu erinnern. Viel konnte mir dazu sowieso nicht einfallen, denn ich war erst sieben oder acht Jahre alt gewesen. Da hatten handgestickte und eingerahmte Sprichwörter an der Wand gehangen, und in einer Vorrichtung aus Plastik auf der Küchentheke hatte Dorothy Lebensmitteln das Wasser entzogen. Irgendwann nachdem Grandpa Decker mich angeschrien hatte, ich sollte meine klebrigen kleinen Pfoten von seiner Modelleisenbahn lassen, war mein Dad hinausgegangen, um eine Zigarette zu rauchen (es war im Winter gewesen), und nicht wieder hereingekommen. » Gütiger Gott « , hatte meine Mutter gesagt, als wir draußen im Wagen saßen (es war ihre Idee gewesen, dass ich die Familie meines Vaters kennenlernen sollte), und danach waren wir nie wieder hingefahren.
    Ein paar Tage nach dem Angebot mit dem Holiday Inn wurde eine Grußkarte für mich bei den Barbours zugestellt. (Am Rande bemerkt: Sehe ich es falsch, wenn ich finde, Bob

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