Der Distelfink
therapeutisches Kunsthandwerk herstellte). Es kam mir so vor, als verbrächte ich außergewöhnlich viel Zeit damit, in leeren Klassenzimmern und Büros herumzustehen (auf den Boden zu schauen und sinnlos mit dem Kopf zu nicken), weil besorgte Lehrer mich baten, nach dem Unterricht noch dazubleiben, oder mich beiseitenahmen, um mit mir zu sprechen. Mein Englischlehrer, Mr. Neuspeil, saß einmal auf der Kante seines Pults und berichtete angespannt vom grässlichen Tod seiner eigenen Mutter unter den Händen eines inkompetenten Chirurgen, und dann klopfte er mir auf den Rücken und gab mir ein leeres Notizbuch, in das ich hineinschreiben sollte. Mrs. Swanson, die Schulpsychologin, zeigte mir ein paar Atemübungen und meinte, ich könnte es hilfreich finden, meinen Schmerz abzuladen, indem ich hinausging und Eiswürfel gegen einen Baum schleuderte. Und sogar Mr. Borowsky (der Mathe unterrichtete und deutlich weniger leuchtende Augen hatte als die anderen Lehrer) nahm mich draußen auf dem Flur beiseite und erzählte mir mit sehr leiser Stimme, sein Gesicht war nur drei Fingerbreit von meinem entfernt, wie schuldig er sich fühlte, nachdem sein Bruder bei einem Autounfall gestorben war. (Von Schuld war in diesen Gesprächen oft die Rede. Glaubten meine Lehrer wie ich, dass ich schuld am Tod meiner Mutter war? Anscheinend ja.) Mr. Borowsky habe so große Schuldgefühle gehabt, weil er seinen Bruder an jenem Abend nach der Party betrunken hatte fahren lassen, dass er sogar eine kurze Zeit lang daran gedacht habe sich umzubringen. Vielleicht hätte ich auch an Selbstmord gedacht. Aber Selbstmord sei nicht die Antwort.
Ich nahm alle diese Ratschläge höflich entgegen, mit glasigem Lächeln und einem grellen Gefühl der Unwirklichkeit. Viele Erwachsene deuteten diese Taubheit anscheinend als positives Zeichen. Ich erinnere mich speziell daran, wie Mr. Beeman (ein übertrieben gestutzter Brite mit einer albernen Automütze aus Tweed, den ich inzwischen trotz seiner Fürsorglichkeit irrational zu hassen begonnen hatte, weil er am Tode meiner Mutter beteiligt gewesen war) mir ein Kompliment zu meiner Reife machte und mich davon in Kenntnis setzte, ich käme offenbar » schrecklich gut damit zurecht « . Und vielleicht kam ich tatsächlich schrecklich gut zurecht– ich weiß es nicht. Jedenfalls stieß ich nicht laut heulend meine Faust durch die Fensterscheibe und tat auch sonst nichts von dem, was in meiner Vorstellung Leute tun könnten, denen es ging wie mir. Aber manchmal, ganz unerwartet, brandete der Schmerz in Wellen über mich hinweg, die mir den Atem verschlugen, und wenn sie zurückwichen, schaute ich unversehens hinaus auf ein salzfeuchtes Wrack, beleuchtet von einem Licht so hell, so herzversehrt und leer, dass es schwerfiel, mich daran zu erinnern, dass die Welt jemals etwas anderes als tot gewesen war.
V
Ehrlicherweise verschwendete ich keinen Gedanken an meine Großeltern Decker, und das war auch gut so, denn das Jugendamt war außerstande, sie anhand der spärlichen Informationen, die ich ihnen geben konnte, auf Anhieb zu finden. Dann klopfte Mrs. Barbour an die Tür von Andys Zimmer und sagte: » Theo, können wir kurz miteinander sprechen, bitte? «
Etwas an ihrer Art verhieß eindeutig schlechte Neuigkeiten, auch wenn es in meiner Situation schwer vorstellbar war, dass es noch schlimmer kommen könnte. Als wir im Wohnzimmer Platz genommen hatten– neben einem meterhohen Arrangement aus Weidenkätzchen und blühenden Apfelzweigen aus dem Blumengeschäft–, schlug sie die Beine übereinander und sagte: » Ich habe einen Anruf vom Jugendamt bekommen. Sie haben Kontakt zu deinen Großeltern aufgenommen. Leider scheint es aber deiner Großmutter nicht gut zu gehen. «
Einen Moment lang war ich verwirrt. » Dorothy? «
» Wenn du sie so nennst– ja. «
» Oh. Sie ist nicht meine richtige Großmutter. «
» Ich verstehe « , sagte Mrs. Barbour, als verstehe sie in Wirklichkeit keineswegs und habe auch kein Verlangen danach. » Jedenfalls. Es geht ihr anscheinend nicht gut– ein Rückenleiden, glaube ich–, und dein Großvater muss sie versorgen. Die Sache ist also die, weißt du– und ich bin sicher, sie bedauern es sehr–, aber sie sagen, es sei im Moment nicht machbar, dich dort hinkommen zu lassen. Jedenfalls nicht, wenn du bei ihnen wohnen sollst « , fügte sie hinzu, als ich nichts sagte. » Sie haben angeboten, dir vorläufig den Aufenthalt in einem Holiday Inn in ihrer Nähe zu bezahlen, aber
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