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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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das klingt doch eher impraktikabel, nicht wahr? «
    Ich hatte einen unangenehmen Summton im Ohr. Unter dem gleichmütigen Blick ihrer eisgrauen Augen schämte ich mich plötzlich entsetzlich. Mir hatte so sehr vor der Vorstellung gegraut, zu Grandpa Decker und Dorothy ziehen zu müssen, dass ich den Gedanken daran beinahe vollständig aus meinem Kopf vertrieben hatte. Aber zu hören, sie wollten mich nicht haben, war eine ganz andere Sache.
    Ein Ausdruck von Mitgefühl flackerte über ihr Gesicht. » Das braucht dir nicht unangenehm zu sein « , sagte sie. » Und Sorgen machen musst du dir sowieso nicht. Vereinbart ist, dass du die nächsten paar Wochen bei uns bleiben und mindestens das Schuljahr zu Ende bringen kannst. Alle sind sich einig, dass es so am besten ist. Übrigens « – sie beugte sich herüber– » das ist ein hübscher Ring. Ist das ein Familienerbstück? «
    » Äh, ja. « Aus Gründen, die ich kaum hätte erklären können, hatte ich mir angewöhnt, den Ring des alten Mannes fast auf allen meinen Wegen bei mir zu tragen. Meistens spielte ich in meiner Jackentasche damit herum, aber ich schob ihn auch auf den Mittelfinger und trug ihn dort, obwohl er mir zu groß war und ein bisschen hin und her rutschte.
    » Interessant. Aus der Familie deiner Mutter oder deines Vaters? «
    » Von meiner Mutter « , sagte ich nach einer kurzen Pause. Die Richtung, die dieses Gespräch nahm, gefiel mir nicht.
    » Darf ich ihn sehen? «
    Ich zog ihn ab und ließ ihn auf ihre Handfläche fallen. Sie hielt ihn unter die Lampe. » Hübsch « , sagte sie. » Ein Karneol. Und das Intaglio– ist das griechisch-römisch? Oder ein Familienwappen? «
    » Äh, ein Wappen, glaube ich. «
    Sie studierte das mythische Klauenungeheuer. » Sieht aus wie ein Greif. Oder vielleicht wie ein geflügelter Löwe. « Sie drehte den Ring seitwärts ins Licht und warf einen Blick auf die Unterseite. » Und diese Gravur im Inneren? «
    Sie runzelte die Stirn, als sie mein ratloses Gesicht sah. » Erzähl mir nicht, du hättest sie nie bemerkt. Warte. « Sie stand auf, ging zu einem Schreibtisch mit vielen verschnörkelten Schubladen und Fächern und kam mit einer Lupe zurück.
    » Damit geht es besser als mit meiner Lesebrille. « Sie spähte hindurch. » Trotzdem ist diese alte Gravierung sehr schwer zu lesen. « Sie hielt die Lupe näher an den Ring und vergrößerte den Abstand dann wieder. » Blackwell. Fällt dir dazu etwas ein? «
    » Äh… « Tatsächlich war da etwas außerhalb aller Worte, aber der Gedanke wehte davon und war verschwunden, ehe er sich verfestigen konnte.
    » Ich sehe auch ein paar griechische Buchstaben. Sehr interessant. « Sie gab mir den Ring zurück. » Es ist ein alter Ring « , sagte sie. » Man sieht es an der Patina des Steins und an den verschlissenen Stellen– siehst du, hier? Früher haben Amerikaner sich diese klassischen Intaglien aus Europa mitgebracht, damals zur Zeit von Henry James, und haben sie in Ringe fassen lassen. Andenken an die Große Reise. «
    » Wenn sie mich nicht haben wollen, wo soll ich dann hin? «
    Einen Augenblick lang war Mrs. Barbour verdutzt. Beinahe sofort hatte sie sich wieder gefasst. » Na, darüber würde ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Wahrscheinlich ist es sowieso am besten, wenn du erst noch ein Weilchen hierbleibst und das Schuljahr zu Ende bringst, meinst du nicht auch? Aber jetzt « , sie nickte mir zu, » gib gut acht auf diesen Ring und pass auf, dass du ihn nicht verlierst. Ich sehe ja, wie lose er sitzt. Vielleicht möchtest du ihn lieber an einem sicheren Ort aufbewahren, statt ihn so herumzutragen. «
    VI
    Aber ich trug ihn weiter. Besser gesagt, ich ignorierte ihren Rat, ihn an einem sicheren Ort aufzubewahren, und behielt ihn weiter in der Tasche. Wenn er auf meiner Handfläche lag, war er sehr schwer, und wenn ich ihn mit den Fingern umschloss, wurde das Gold warm von meiner Körperwärme, aber der geschnittene Stein blieb kühl. Seine schwere, antiquierte Beschaffenheit, die Mischung aus Nüchternheit und Funkeln, wirkte seltsam tröstlich. Wenn ich mich intensiv genug darauf konzentrierte, hatte er die seltsame Macht, mich in meinem Zustand des Treibens zu verankern und die Welt um mich herum auszusperren, aber trotz allem wollte ich eigentlich nicht darüber nachdenken, woher ich ihn hatte.
    Auch über meine Zukunft wollte ich nicht nachdenken. Auch wenn ich mich kaum auf ein neues Leben im ländlichen Maryland, angewiesen auf die kalte Gnade

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