Der Distelfink
hinter mir herangelaufen kommen und mir sein Algebra-Lehrbuch auf den Kopf knallen. Aber er tat es nicht. Am nächsten Morgen vor der ersten Stunde sah er mich nicht mal an, als ich Hallo sagte, und sein ausdrucksloses Gesicht, mit dem er sich an mir vorbeischob, ließ mich erstarren. Lindy Maisel und Mandy Quaife drehten sich vor ihren Spinden um, starrten einander an und kicherten halb schockiert: O mein Gott! Neben mir schüttelte mein Partner im Physiklabor, Sam Weingarten, den Kopf. » Was für ein Arschloch « , sagte er mit lauter Stimme, so laut, dass alle auf dem Flur sich umdrehten. » Du bist ein echtes Arschloch, Cable, weißt du das? «
Aber mich kümmerte es nicht. Zumindest war ich nicht gekränkt oder deprimiert. Stattdessen war ich wütend. Meine Freundschaft mit Tom hatte immer etwa Wildes, Manisches an sich gehabt, sie war irgendwie durchgeknallt, hektisch und ein bisschen gefährlich, und auch wenn die ganze alte, starke Energie immer noch da war, hatte die Strömung sich doch umgekehrt, und die Hochspannung summte in die entgegengesetzte Richtung, sodass ich jetzt nicht mehr im Pausenraum mit ihm herumalbern, sondern ihn mit dem Kopf ins Urinal tauchen und ihm den Arm auskugeln wollte; ich wollte sein Gesicht auf dem Gehweg blutig schlagen und ihn zwingen, Hundescheiße und Müll aus der Gosse zu fressen. Je länger ich darüber nachdachte, desto wütender wurde ich, und manchmal war ich so sauer, dass ich im Bad auf und ab ging und vor mich hin murmelte. Wenn Cable mich nicht bei Mr. Beeman verpfiffen hätte ( » Ich weiß inzwischen, Theo, dass diese Zigaretten nicht dir gehörten « )… wenn Cable nicht für meine Suspendierung gesorgt hätte… wenn meine Mom sich nicht den Tag freigenommen hätte… wenn wir nicht genau im falschen Augenblick im Museum gewesen wären… na, sogar Mr. Beeman hatte sich dafür entschuldigt, sozusagen. Denn, sicher, es gab Probleme mit meinen Noten (und jede Menge andere Sachen, von denen Mr. Beeman gar nichts wusste), aber das maßgebliche Ereignis, dessentwegen ich in die Schule zitiert worden war, die ganze Geschichte mit den Zigaretten auf dem Hof– wer war daran schuld? Cable. Es war nicht so, dass ich eine Entschuldigung von ihm erwartete. Im Gegenteil wahrscheinlich hätte ich nie ein Wort darüber verloren, niemals. Nur– war ich jetzt ein Paria? Persona non grata? Er wollte nicht mal mehr mit mir sprechen? Ich war kleiner als Cable, aber nicht viel, und immer wenn er im Unterricht einen schlauen Spruch abließ, was er sich nicht verkneifen konnte, oder wenn er mit seinen neuen besten Freunden Billy Wagner und Thad Randolph auf dem Flur an mir vorbeilief (wie wir früher miteinander herumgerannt waren, ständig im Overdrive, mit dieser Sucht nach Gefahr und Irrsinn)– bei all diesen Gelegenheiten konnte ich immer nur daran denken, wie gern ich ihm die Scheiße aus dem Leib prügeln würde, sodass die Mädchen lachten, wenn er tränenüberströmt vor mir kauerte: Uuuuh, Tom! Buh-huh-hu! Heulst du etwa? (Ich tat mein Bestes, um einen Kampf zu provozieren: Einmal gab ich ihm absichtlich aus Versehen eins auf die Nase, indem ich ihm die Toilettentür vor der Nase zuschlug, und einmal schubste ich ihn gegen den Getränkeautomaten, sodass er seine ekelhaften Käsefritten auf den Boden fallen ließ, aber statt sich auf mich zu stürzen– worauf ich inständig hoffte–, grinste er nur spöttisch und ging wortlos weg.)
Natürlich gingen mir nicht alle aus dem Weg. Viele Leute schoben Zettel und Geschenke in meinen Spind (unter anderem Isabella Cushing und Martina Lichtblau, die beiden beliebtesten Mädchen meines Jahrgangs), und mein alter Feind Win Temple aus der Fünften überraschte mich, indem er auf mich zukam und mich umarmte wie ein Bär. Aber die meisten reagierten auf mich mit vorsichtiger, halb ängstlicher Höflichkeit. Es war nicht so, dass ich weinend oder auch nur verstört herumlief, aber trotzdem brachen sie mitten im Gespräch ab, wenn ich mich in der Mittagspause zu ihnen setzte.
Erwachsene dagegen schenkten mir unbehagliche Mengen an Aufmerksamkeit. Man riet mir, ein Tagebuch zu führen, mit meinen Freunden zu sprechen, eine » Erinnerungscollage « zu machen (bescheuerte Vorschläge, was mich betraf: Die anderen Kids waren beklommen in meiner Gegenwart, egal, wie normal ich mich benahm, und als Allerletztes wollte ich Aufmerksamkeit auf mich ziehen, indem ich anderen Leuten meine Gefühle anvertraute oder im Zeichensaal
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