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Der Doktor und das liebe Vieh

Der Doktor und das liebe Vieh

Titel: Der Doktor und das liebe Vieh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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wollte.
    Vor mir standen sechs gutgewachsene Jungtiere, und drei von ihnen benahmen sich höchst merkwürdig. Sie knirschten mit den Zähnen, hatten Schaum vor dem Maul und stolperten umher, als könnten sie nicht sehen. Eines der Tiere lief gegen die Wand und blieb dort stehen, die Nase an den Stein gepreßt.
    Phin gab sich uninteressiert und summte vor sich hin. Als ich mein Thermometer aus dem Futteral nahm, schrie er: »Na, was passiert denn jetzt? Achtung, es geht los!«
    Die halbe Minute, die mein Thermometer im After eines Tieres steckt, verbringe ich meistens mit hektischem Nachdenken. Diesmal aber stand meine Diagnose von vornherein fest; die Blindheit war ein eindeutiges Symptom. Ich begann die Wände des Stalles abzusuchen; es war dunkel, und ich mußte das Gesicht dicht an den Stein halten.
    »He, was soll denn das?« rief Phin. »Sie sind ja ebenso schlimm wie meine Kälber mit ihrer Schnüffelei. Was suchen Sie?«
    »Farbe, Mr. Calvert. Ich bin nahezu sicher, daß Ihre Kälber eine Bleivergiftung haben.«
    Phin sagte genau das, was alle Bauern in solchen Fällen sagen. »Können sie gar nicht. Dies ist seit dreißig Jahren mein Kälberstall, und nie hat den Tieren etwas gefehlt. Außerdem gibt’s hier keine Farbe.«
    »Und was ist das?« Ich zog ein loses Brett aus der dunkelsten Ecke.
    »Ach, damit habe ich letzte Woche ein Loch zugenagelt. Stammt von einem alten Hühnerstall.«
    Ich blickte auf die zwanzig Jahre alte Farbe, die von dem Holz abblätterte. Kälber finden sie unwiderstehlich. »Das hier ist die Ursache des Übels«, erklärte ich. »Schauen Sie, man kann die Spuren der Zähne erkennen.«
    Phin untersuchte das Brett eingehend und ließ ein skeptisches Grunzen hören. »Gut, und was machen wir jetzt?«
    »Vor allen Dingen muß dieses angestrichene Brett weg, und dann geben wir allen Kälbern Epsomsalz. Haben Sie welches da?«
    Phin lachte rauh auf. »Natürlich, ich hab einen ganzen Sack voll, aber gibt’s denn nichts Besseres dagegen? Wollen Sie ihnen nicht ’ne Spritze verpassen?«
    Es war etwas peinlich. Die spezifischen Gegenmittel bei Metallvergiftungen hatte man damals noch nicht entdeckt, und das einzige, was manchmal half, war Magnesiumsulfat, das die Fällung von unlöslichem Bleisulfat bewirkt. In der Umgangssprache ist Magnesiumsulfat unter dem Namen Epsomsalz bekannt.
    »Nein«, sagte ich. »Gegen Bleivergiftung gibt es keine Injektion, und ich bin nicht einmal sicher, ob das Salz hilft. Aber ich möchte trotzdem, daß Sie den Kälbern dreimal täglich zwei gehäufte Eßlöffel voll geben.«
    »Meine Güte, da gehen die armen Viecher ja drauf!«
    »Möglich. Aber man kann nichts anderes dagegen tun«, erwiderte ich. Phin machte einen Schritt auf mich zu, so daß sein dunkelhäutiges, runzeliges Gesicht dicht vor mir war. Die listigen braunen Augen sahen mich ein paar Sekunden unverwandt an.
    »Gut«, sagte er. »Kommen Sie rein und trinken Sie was.«
    Er stapfte vor mir her in die Küche, warf den Kopf in den Nacken und brüllte, daß die Fenster klirrten: »Mutter! Dieser Bursche möchte ein Glas Bier. Komm her und sag guten Tag!«
    Mrs. Calvert erschien unglaublich schnell mit Gläsern und Flaschen. Ich blickte auf das Etikett – Smith’s Nutty Brown Ale – und füllte mein Glas. Es war das erste von ungezählten Bieren, die ich im Lauf der Jahre an diesem Tisch trinken sollte.
    Mrs. Calvert setzte sich für einen Augenblick, faltete die Hände im Schoß und lächelte mich an. »Können Sie irgendwas für die Kälber tun?« fragte sie.
    Phin ließ mich überhaupt nicht zu Wort kommen. »Und ob er was tun kann. Er hat ihnen Epsomsalz verschrieben.«
    »Epsomsalz?«
    »So ist es, Missis. Ich hab ihm gesagt, wir wollten was richtig Modernes und Wissenschaftliches. Geht doch nichts über neue Erkenntnisse.« Phin schlürfte feierlich sein Bier.
    In den folgenden Tagen ging es den Kälbern allmählich besser, und nach zwei Wochen fraßen sie alle wieder normal. Nur eines schien noch ein wenig sehbehindert zu sein, aber ich war sicher, auch das würde sich geben.
    Es dauerte nicht lange, bis ich Phin wiedersah. Eines Nachmittags war ich mit Siegfried im Büro, als die Haustür ins Schloß knallte und schwere Nagelschuhe den Korridor entlangstapften. Eine Stimme sang vor sich hin – heidideldei-rumtatum –, und Phineas trat ein.
    »Sieh an, sieh an!« brüllte er vergnügt, als er Miss Harbottle sah. »Da ist sie ja, die Süße! Und was macht mein kleiner Liebling an diesem

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