Der Doktor und das liebe Vieh
war noch nicht dagewesen, aber mit Sicherheit würde meine Patientin tot in ihrer Box liegen. Vor lauter Nervosität brachte ich zuerst den Türhaken nicht auf. Es war, als sperrte sich etwas in mir, in den Stall hineinzuschauen. Aber schließlich riß ich die Tür mit einem Ruck weit auf.
Und da stand Strawberry und fraß ihr Heu! Und sie fraß nicht nur – sie riß das Heu munter zwischen den Stangen der Futterraufe hindurch, so wie Kühe das tun, wenn sie ihr Futter genießen. Es sah aus, als könne sie es gar nicht schnell genug herunterschlingen. Sie zerrte große, duftende Büschel herunter und zog sie sich mit ihrer rauhen, raspelartigen Zunge ins Maul. Ich starrte sie an, und irgendwo in meinem Innern erklang, mächtig und jubilierend, dröhnende Orgelmusik. Ich ging hinein, schloß die Tür hinter mir und setzte mich in einer Ecke aufs Stroh. Ich wollte diesen ersehnten Augenblick in vollen Zügen genießen.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dasaß, aber ich kostete jede Minute aus. Es dauerte lange, bis ich begriff, daß alles, was ich vor mir sah, Wirklichkeit war: daß Strawberry mühelos kaute und schluckte, daß sie leicht und geräuschlos atmete und nicht mehr unter vermehrtem Speichelfluß litt. Als ich schließlich hinausging und die Tür hinter mir schloß, dröhnte die Orgel noch lauter und jubelnder als zuvor.
Strawberry erholte sich erstaunlich schnell. Als ich sie drei Wochen später wiedersah, waren ihre Knochen wieder schön mit Fleisch bedeckt, ihr Fell glänzte, und ihr großer herrlicher Euter baumelte rund und prall unter ihrem Leib.
Ein paar Wochen nach der Episode mit Strawberry saß ich eines Tages wieder einmal an meinem Stammplatz in der Küche der Rudds. Die Familie hatte sich um mich versammelt, doch diesmal war ich nicht in der Lage, mit Perlen meiner Weisheit um mich zu werfen. Ich war ganz damit beschäftigt, ein Stück von Mrs. Rudds Apfelkuchen zu verdrücken. Mrs. Rudd konnte, wie ich aus Erfahrung wußte, herrlichen Apfelkuchen backen, doch dies war eine Spezialsorte, für Dick und die Kinder als Vesperbrot bestimmt, wenn sie draußen auf dem Feld arbeiteten. Ich kaute an dem fünf Zentimeter dicken Boden herum, und mein Mund war schon ganz ausgetrocknet.
»Mr. Herriot«, sagte Mrs. Rudd in ihrer ruhigen, nüchternen Art. »Dick möchte Ihnen etwas sagen.«
Dick räusperte sich und setzte sich aufrecht. Mit vollen Backentaschen wandte ich mich ihm erwartungsvoll zu. Er sah ungewöhnlich ernst aus, und ich war leicht beunruhigt.
»Tja, was ich sagen wollte«, fing er an. »Wir haben bald silberne Hochzeit, und da möchten wir ein bißchen feiern. Wir wollten Sie bitten, unser Gast zu sein.«
Ich erstickte fast an meinem Kuchen. »Oh, Dick, Mrs. Rudd, das ist aber sehr freundlich von Ihnen. Es wird mir eine Ehre sein.«
Dick verneigte sich feierlich. Er sah so aus, als habe er noch etwas Wichtiges zu verkünden.
»Gut, ich hoffe, es wird Ihnen gefallen. Es soll ein richtiges Fest werden. Wir haben einen Festsaal im King’s Head in Carsley für den Tag reserviert.«
»Donnerwetter, das klingt ja großartig!«
»Ja, meine Frau und ich haben uns alles genau überlegt.« Er straffte seine Schultern und hob stolz den Kopf.
»Es gibt ein warmes Essen, und auch für Unterhaltung ist gesorgt. Wir haben Künstler bestellt.«
Kapitel 33
Es war eine ganz neue Erfahrung für mich, draußen vor dem Krankenhaus zu stehen und darauf zu warten, daß die Schwestern Dienstschluß hatten. Für Tristan dagegen war es schon Routine: ihn traf man hier an mehreren Abenden in der Woche. Wie erfahren er war, zeigte sich auf mancherlei Weise, vor allem aber daran, wie er in einer dunklen Ecke des Eingangs zu den Gaswerken unmittelbar neben dem Lichtkreis der Straßenlaterne Posten bezog: von dort aus konnte er auf der anderen Straßenseite den Eingang des Krankenhauses und den langen weißen Flur, der zu den Schwesternzimmern führte, überblicken. Vor allem bot der Platz den Vorteil, daß Tristan hier, falls Siegfried zufällig vorbeikam, unsichtbar und sicher war.
Um halb acht stieß er mich mit dem Ellbogen an. Zwei Mädchen kamen die Stufen vor dem Krankenhaus herunter und blieben erwartungsvoll auf dem Gehsteig stehen. Tristan blickte in beide Richtungen. Dann packte er mich am Arm. »Kommen Sie, Jim, da sind sie. Die linke, die rotblonde, das ist Connie – eine reizende kleine Person.«
Wir überquerten die Straße, und mit seinem gewohnten Charme stellte Tristan mich
Weitere Kostenlose Bücher