Der Dominoeffekt
Die junge Frau hatte sich scheinbar entschlossen, ihren Tisch zu meiden, sie war weit und breit nicht zu sehen. »Machst du die nächste Tour nach Frankreich?«, fuhr er fort.
»Wann?«
»Weiß ich noch nicht genau, innerhalb der nächsten zwei Wochen. Zwei Kasachen und ein Ukrainer, die Pässe kriege ich übermorgen.«
»Ist ein guter Fahrer dabei?«
»Der Ukrainer auf jeden Fall, bei den anderen weiß ich es nicht. Warum?«
»Die, die wir jetzt haben, sind seit fast drei Monaten hier, wird mal Zeit, dass die eine Auszeit nehmen.«
»Okay, dann merke ich die beiden vor. Brauchen wir sonst noch Ersatz?«
»Im Augenblick nicht, die nächsten vielleicht so in fünf, sechs Wochen.«
»Na gut.« Sax fuhr sich mit der Hand durch seine Haarbüschel. »Gib mir morgen Bescheid, wie es heute gelaufen ist, du erfährst dann den Übergabeort an den Schweizer.«
»Noch was«, sagte Marohn. »Wir haben so gut wie keine Handys mehr. Hast du noch welche?«
Sax seufzte. In seinem Job konnte man nicht vorsichtig genug sein. Und es bestand die Gefahr, dass man abgehört oder belauscht wurde, deshalb war es ein ungeschriebenes Gesetz, ein Handy maximal zwei Tage zu benutzen. So war der Bedarf an Mobiltelefonen groß. Es war zwar kein Problem, sich mit geklauten Handys zu versorgen, sofern man die richtigen Kontakte hatte, aber die Sicherheit hatte ihren Preis.
»Ich hab noch dreißig Stück, kannst du meinetwegen haben. Ich kümmere mich um Nachschub. Dafür regelst du das mit der Rechnung, einverstanden?«
Sax erhob sich und klopfte seinem Kumpanen zum Abschied auf die Schulter. Dann schlängelte er sich an den kaum besetzten Tischen vorbei Richtung Ausgang.
Marohn sah seinem Boss verdutzt nach und steckte sich eine Kippe zwischen die Lippen. Der Abend hatte gerade erst angefangen; bis die Jungs den Job in Bochum erledigten, war es noch ein paar Stunden hin. Blieb genug Zeit, noch etwas für den Hormonhaushalt zu tun.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er die Bedienung, die mit einem leeren Tablett zur Theke ging. Er winkte sie zu sich, während er den Umschlag mit den Hundertern achtlos zusammenfaltete und in die Hosentasche steckte, nicht ohne zuvor zwei Scheine herausgenommen zu haben. Spesen waren schließlich für alle da.
»Ja, bitte?«, fragte die Kellnerin.
»Zahlen.«
»Zusammen?«
Marohn nickte und begutachtete erneut den Körperbau der Studentin.
»Fünf achtzig.«
Der Tätowierte zog einen Zwanziger aus seiner Geldbörse und schob ihn gönnerhaft über den Tisch. »Stimmt so, woll«, erklärte er und nahm einen tiefen Blick in ihren Ausschnitt, während sie den Geldschein einsammelte. Die Titten waren das Trinkgeld wert…
6
Jörn Kaludzinsky riss die Hülle seines Schokoriegels auf und biss hinein. Noch während er das süße Zeug hungrig durchkaute, setzte er den Plastikbecher mit dem Kaffee an seine Lippen und nahm einen großen Schluck. Um diese Zeit kämpfte er immer gegen den toten Punkt, die Spanne zwischen Viertel nach drei und halb fünf war die schlimmste. Danach ging es besser, der Feierabend war schon in Sicht, vor allem im Sommer fiel es ihm leicht, noch die letzten Stunden einer Schicht abzusitzen. Wenn die Dämmerung langsam heraufkroch, gab ihm das jedes Mal einen Schub, als ob gleichzeitig mit der aufgehenden Sonne seine Lebensgeister geweckt würden.
Diese Idioten in der Zentrale! Als ob es nicht schon reichen würde, ihn während der Nachtstunden durch die Stadt zu jagen… Nein, natürlich hatten sie ihm eine andere Route aufs Auge gedrückt. Kalle hatte sich eine Stunde vor Arbeitsbeginn krank gemeldet, Kaludzinsky und Matthes, der dritte Kollege aus der Nachtschicht, hatten sich Kalles Route nun teilen müssen, Ersatz war so kurzfristig nicht mehr zu beschaffen gewesen. Nicht dass sie deswegen in Stress gerieten, aber die Zeitfenster zwischen den einzelnen Kontrollen wurden kleiner und der gewohnte Rhythmus verschob sich. Einige Objekte konnten sie nur oberflächlich überprüfen. Na ja, die Kunden würden wahrscheinlich gar nichts davon mitbekommen.
Der Wachmann zupfte den Kragen seiner Arbeitskleidung zurecht, schluckte den letzten Rest der Pampe aus Schokolade, Karamell und Kaffee herunter und schraubte den Verschluss der Thermoskanne fest. Auf zur nächsten Etappe.
Kaludzinsky gähnte herzhaft, fuhr sich mit der linken Hand über den rasierten Schädel und warf einen Blick auf sein Clipboard. Er war fast genau im Zeitplan, auf seiner gewohnten Route hätte er sich
Weitere Kostenlose Bücher