Der Dorfpfarrer (German Edition)
zeigte zwei Uhr nach Mitternacht an. Gegen Mitte März, dem Zeitpunkte des Verbrechens, wird es zwischen fünf und sechs Uhr morgens Tag. In welche Entfernung die Summen auch getragen sein mochten, Tascheron hatte nach den von der Untersuchung und Staatsanwaltschaft vertretenen hypothetischen Zirkelschlüssen doch den Raub nicht allein bewerkstelligen können. Die Sorgfalt, mit der Tascheron die Schrittspuren ausgelöscht hatte, indem er seine darüber vernachlässigte, offenbarte eine geheimnisvolle Mitwirkung. Da das Gericht sich genötigt sah zu erfinden, schrieb sie das Verbrechen einer Liebesraserei zu; und da der Gegenstand dieser Leidenschaft sich nicht in der unteren Volksschicht fand, hob es seine Augen höher. Hatte vielleicht eine Bürgersfrau, der Verschwiegenheit eines jungen Mannes von restloser Treue sicher, einen Roman angeknüpft, dessen Lösung fürchterlich war? Für diese Annahme wurde durch die Nebenerscheinungen der Mordtat beinahe der Nachweis geliefert. Der Alte war mit Spatenhieben getötet worden. Folglich war seine Ermordung das Ergebnis eines plötzlichen, unvorhergesehenen, zufälligen Verhängnisses. Die beiden Liebenden konnten sich vorgenommen haben zu stehlen und nicht zu morden. Der verliebte Tascheron und der geizige Pingret, zwei unversöhnliche Leidenschaften, waren sich auf demselben Gebiete begegnet, beide in den dichten Finsternissen der Nacht durch das Gold angelockt. Um irgendeinen Lichtschimmer in diese gegebene Finsternis zu bringen, wandte das Gericht gegen eine innig geliebte Schwester des Jean-François das Hilfsmittel der Verhaftung und des engeren Gewahrsams an, in der Hoffnung, durch sie in die Geheimnisse des brüderlichen Privatlebens einzudringen. Denise Tascheron beschränkte sich auf ein von der Klugheit diktiertes System des Leugnens, das sie in den Verdacht brachte, von den Ursachen des Verbrechens unterrichtet zu sein, obwohl sie nichts wußte. Diese Gefangenschaft brandmarkte ihr Leben. Der Angeklagte zeigte einen bei Leuten aus dem Volke sehr seltenen Charakter: er hatte die geschicktesten Spione, mit denen man ihn zusammen eingesperrt, ohne ihren Auftrag durchschaut zu haben, in Verwirrung gebracht. Für die vornehmen Geister des Richterstandes war Jean-François daher Verbrecher aus Leidenschaft und nicht aus Not, wie die Mehrzahl der gewöhnlichen Mörder, die alle erst die Zuchtpolizei und das Bagno durchmachen, ehe sie zu ihrer letzten Tat schreiten. Aktive und kluge Nachforschungen wurden im Sinne dieser Idee angestellt; doch die unveränderliche Verschwiegenheit des Verbrechers ließ die Untersuchung ohne wesentliche Bestandteile. Nachdem der ziemlich einleuchtende Roman dieser Leidenschaft für eine Weltdame zugegeben worden war, wurde an Jean-François mehr als eine verfängliche Frage gestellt; doch seine Verschwiegenheit triumphiert über alle moralischen Torturen, denen die Geschicklichkeit des Untersuchungsrichters ihn unterwarf. Als der Gerichtsbeamte als letzten Versuch zu Tascheron sagte, daß die Person, für die er das Verbrechen begangen, erkannt und verhaftet worden sei, verzog er keine Falte seines Gesichts und begnügte sich mit der ironischen Antwort:
»Ich würde sie sehr gern sehen!«
Als man diese Umstände vernahm, teilten viele Leute die Verdachtgründe der Richter, die dem Anscheine nach durch das ungewohnte Schweigen, das der Angeklagte wahrte, bekräftigt wurden. Lebhaftestes Interesse haftete sich an einen jungen Menschen, der ein Problem wurde. Jedermann wird leichtlich begreifen, wie sehr diese wesentlichen Bestandteile die allgemeine Neugierde erregten, und mit welch einer Begierde Debatten geführt wurden. Trotz des Sondierens der Polizei wurde die Untersuchung an der Schwelle der Hypothese festgehalten, ohne es zu wagen, in das Geheimnis einzudringen: sie fand dort zu große Gefahren! In gewissen richterlichen Fällen genügen die Halb-Gewißheiten den Juristen nicht. Man hoffte daher die Wahrheit am großen Tage des Schwurgerichts – ein Augenblick, wo viele Missetäter sich widersprechen – ans Licht kommen zu sehen.
Monsieur Graslin war einer der für die Sitzungsperiode ausgelosten Geschworenen, so daß Veronique, sei es durch ihren Mann, sei es durch Monsieur de Granville, die geringfügigsten Einzelheiten des Kriminalprozesses, der vierzehn Tage lang Limousin und Paris in Atem hielt, erfahren mußte. Die Haltung des Angeklagten rechtfertigte die von der Stadt nach den Schlüssen des Gerichts sich angeeignete
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