Der Dorfpfarrer (German Edition)
fehlt; er würde Zeit gehabt haben, sich auf rechtschaffene Art Geld zu erwerben, indem er den Augenblick erwartete, wo es jedem Mädchen freisteht, sich gegen den Willen seiner Eltern zu verheiraten.«
»Ich wußte nicht, daß eine solche Heirat möglich sei,« entgegnete Madame Graslin; »doch wie, in einer Stadt, wo man alles weiß, wo jeder sieht, was bei seinem Nachbar vorgeht, hat man nicht den leichtesten Verdacht? Um sich zu lieben, muß man sich mindestens sehen oder gesehen haben. Wie denken Sie, die Richter, darüber?« fragte sie, indem sie einen festen Blick in die Augen des stellvertretenden Generalprokurators tauchte.
»Wir glauben alle, daß die Frau dem Bürger- oder Kaufmannsstande angehört.«
»Ich meine das Gegenteil,« sagte Madame Graslin. »Eine Frau aus den Kreisen hat nicht gehobene Gefühle genug.« –
Diese Antwort lenkte die Blicke aller auf Veronique und jeder erwartete eine Erklärung dieser paradoxen Rede.
»Während der Nachtstunden, die ich schlaflos verbringe oder tagsüber in meinem Bett, ist es mir unmöglich, nicht an diese geheimnisvolle Sache zu denken, und ich habe Tascherons Motive zu erfassen geglaubt. Aus folgendem Grunde denke ich an ein junges Mädchen. Eine verheiratete Frau hat Interessen, wenn nicht Gefühle, die ihr Herz teilen und sie hindern, zu der vollkommenen Begeisterung zu gelangen, die eine so große Leidenschaft einflößt. Man braucht kein Kind zu haben, um eine Liebe zu verstehen, die mütterliche Gefühle mit denen vereinigt, die dem Verlangen vorhergehen. Ganz gewiß ist dieser Mann von einer Frau geliebt worden, die seine Stütze sein wollte. In seine Leidenschaft wird die Unbekannte das Genie gelegt haben, dem wir die schönsten Werke der Künstler, der Dichter verdanken, das in der Frau, aber unter anderer Form vorhanden ist: sie ist dazu ausersehen, Menschen und nicht Dinge zu erschaffen! Unsere Werke sind die Kinder. Die Kinder sind unsere Gemälde, unsere Bücher, unsere Statuen. Sind wir nicht Künstler bei ihrer ersten Erziehung? Auch wette ich und würde mir meinen Kopf abschneiden lassen, daß, wenn die Unbekannte nicht Mädchen, sie auch nicht Mutter ist. Die Leute der Staatsanwaltschaft müßten die Feinfühligkeit der Frauen besitzen, um tausend Nuancen zu erraten, die ihnen bei vielen Gelegenheiten fortwährend entgehen. Wenn ich Ihr Staatsanwaltsgehilfe gewesen wäre,« sagte sie zu dem stellvertretenden Generalprokurator, »würden wir die Schuldige gefunden haben, vorausgesetzt, daß die Unbekannte schuldig ist. Gleich dem Herrn Abbé Dutheil räume ich ein, daß die beiden Liebenden den Plan zur Flucht gefaßt hatten, und zwar mit des armen Pingrets Schätzen, da sie kein Geld hatten, um in Amerika leben zu können. Durch die verhängnisvolle Logik, welche die Todesstrafe Verbrechern einflößt, hat der Diebstahl den Mord erzeugt. So würde es denn,« sagte sie, dem Generalprokurator einen flehenden Blick zuwerfend, »Ihrer würdig sein, wenn Sie nicht von Vorbedacht reden wollten, Sie würden dann dem Unglücklichen das Leben retten ! Trotz seines Verbrechens ist der Mann groß, durch eine wundervolle Reue würde er vielleicht seine Fehler wiedergutmachen. Die Werke der Reue müssen einigen Raum in den Gedanken der Justiz einnehmen. Gibt es heute nichts Besseres zu tun, als seinen Kopf herzugeben oder wie ehedem den Dom von Mailand zu bauen, um Missetaten wettzumachen?«
»Sie sind erhaben in Ihren Gedanken, Madame,« erwiderte der stellvertretende Generalprokurator; »doch wenn man auch von Vorbedacht absähe, würde Tascheron dennoch unter der Wucht der Todesstrafe stehen auf Grund der schwerwiegenden und bewiesenen Umstände, die den Diebstahl begleitet haben: die Nacht, das Eindringen, der Einbruch usw. ...«
»Sie glauben also, daß er verurteilt werden wird?« fragte sie, ihre Wimpern senkend.
»Dessen bin ich gewiß; die Staatsanwaltschaft wird den Sieg davontragen!«
Ein leichter Schauer machte Madame Graslins Kleid knistern; sie sagte:
»Mich friert!«
Sie nahm den Arm ihrer Mutter und legte sich zu Bett.
»Es geht ihr heute sehr viel besser,« sagten ihre Freunde.
Am folgenden Tage war Véronique todkrank. Da ihr Arzt sein Erstaunen ausdrückte, als er sie fast mit dem Tode ringend vorfand, sagte sie lächelnd zu ihm:
»Hatte ich Ihnen nicht vorausgesagt, daß dieser Spaziergang mir nicht guttun würde?«
Seit der Eröffnung der Verhandlungen gab Tascheron sich ohne Prahlerei wie ohne Heuchelei. Immer um die
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