Der Drache am Himmel
die er damit bei ihr auslöst, treibt Rosa die Tränen in die Augen. Natürlich tut sie ihm unrecht. Sie weiß es. Klein fühlt sie sich und schuldig und sie ahnt, warum sie ihn so abschätzig behandelt – weil die Verzweiflung sie zu erdrücken droht. Im Grunde möchte sie einfach um sich schlagen. Wenn sie nur wüsste, wohin mit ihrem Zorn auf Severin, auf Aldo … auf sich selbst. Immerhin geht es wieder voran.
Trostlos genug, dass sie stumm dahinfahren. Noch schlimmer sind die Erinnerungen, die sich ihr gleich wieder aufdrängen. Sie schwimmt hinaus auf den See. Die Kälte ist beißend. Aber aus jeder ihrer ausgreifenden Bewegungen wächst ihr Mut zu. Wunderbar ist das. Bloß kann sie fast nichts sehen. Dampfschwaden hängen ihr vor den Augen wie Nebel, wie Rauch! – Der fauchende, Feuer speiende Drache, den Henry auf dem Maskenfest steigen lässt! Warum führt sich einer mit einem solchen Ungetüm in Stadt und Gesellschaft ein? Ein Knall, das Tier steht am Himmel, dann die absolute Stille. Faszination oder Betretenheit? – Die Tänze, die sie mit Henry wagt! Rosa kann jetzt die Musik hören, getrieben von den dunklen Schlägen einer Pauke. Jäh werden es hallende Schritte in einem monotonen Rhythmus, die Musik ist verklungen und das dunkle Münster totenstill bis auf die Schritte Severins. Rosa spürt ihren Herzschlag so monoton wie diese Schritte, die nicht enden wollen. Jeder ängstigt, doch jeder Tritt beruhigt sie auch. Noch ist Severin nicht geflohen. Ihr angstvolles Horchen, ob seine Schritte ihr folgen, als sie zur Kapelle geht. Er kommt nach. Sie klappen die Kisten auf. Er starrt die Maske an. Sie sagt, was sie von ihm erwartet. Er setzt sein Starren ohne Regung fort. Bis er unvermittelt nickt.
Rosa nimmt wahr, dass Shandar an einer langen Kette von Lastzügen vorbeizieht. Die Sicht ist jetzt etwas besser. Warum sollte ich Severin trauen können? Dem Sohn von Salvatore Bellini? Die Erinnerung an Salvatore lässt sie unwillkürlich aufstöhnen.
»Schmerzen auf der Rücken?«, fragt Shandar besorgt.
»Ich bin nur müde«, sagt Rosa verlegen, weil sie sich ihrer Gehässigkeiten erinnert. Sie müsste sich bei Shandar entschuldigen. Und eigentlich müsste sie ihm danken für diesen Streit, der ihren schweren Gedanken eine kurze Pause verschafft hatte – wie absurd! Jetzt ist alles wieder düster. Salvatore will sich einfach nicht vertreiben lassen. Er lebt doch immer noch. In Gestalt seiner Söhne: Severin, der Düstere, Aldo, der Skrupellose. Salvatores Söhne! Als ob die beiden jetzt erst ihr wahres Wesen zeigten! Hat Salvatore ihr dieses düstere Vermächtnis hinterlassen? Ist das ihre Bestimmung? Ist es an ihr, sich Aldo und Severin entgegenzustellen?
»Ich kann Ihre Schmerz auf der Rücken massieren«, bietet Shandar an. Seine Freundlichkeit kommt ihr wie eine Ohrfeige vor. Was sinnt sie hier großen Versäumnissen und Verstrickungen nach? Sie ist ja nicht einmal fähig, sich bei Réas Liebhaber für ihre dummen Anwürfe zu entschuldigen – jetzt, hier, in der Gegenwart. Was hält sie eigentlich davon ab? Stehen ihr Stolz oder Trotz im Weg? Wie alt muss ich noch werden, um endlich mein lächerliches Ego in den Griff zu bekommen? Aber was habe ich schon groß zu verlieren? Was habe ich überhaupt noch zu verlieren? Diese Überlegung hat Kraft und strahlt geradezu. Sie mag banal sein, aber sie ist brauchbar. Was hat sie denn zu verlieren, wenn sie alles auf eine Karte setzt? Ihren Sohn? Den hat sie längst verloren. Verleugnet hat sie ihn und damit verloren. Auch bei ihm hätte sie sich im Münster entschuldigen müssen. Habe ich das getan? Natürlich nicht! Wann handle ich endlich so, wie ich früher immer getanzt habe – frei und mutig! Einigermaßen freundlich dankt sie Shandar für die angebotene Massage: »Später vielleicht, danke!«
Ihrem Rückenschmerz zum Trotz übernimmt Rosa wieder das Steuer, als sie die Autobahn verlassen. Es ist fast elf Uhr geworden. Und noch haben sie drei Stunden Fahrt vor sich. Wieder hängt Nebel über den Straßen.
Etwas verärgert darüber, dass Lilith und Maurice ihre Anrufe immer noch nicht annehmen, ruft sie Chassang noch einmal an. Er möge den Kindern ausrichten, sie müssten nicht aufbleiben und auf sie warten. Es würde spät. »Und sag ihnen, dass ich einen guten Freund mitbringe.« Insgeheim hofft sie, Shandar werde verstehen, was sie damit ausdrücken will. Er lächelt. Auf dunklen Straßen ziehen sie über die Ausläufer der Cevennen. Die
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