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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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jetzt zumachen kann.«
    »Ja, das wäre eine Möglichkeit«, murmelt Rosa. »Aber was ist, wenn er dann auf Shandars Verwandte in Ghana losgeht …«
    »Das würdest du ihm zutrauen?«
    »Du etwa nicht?«
    »So gesehen … Aber solche Fragen darfst du mir nie stellen, Rosa. Ich habe nämlich eine gefährliche Phantasie. Manchmal fallen mir Dinge ein, für die man mich früher als Hexe verbrannt hätte. Meistens hüte ich mich, davon zu sprechen. Als ich Henry kennenlernte … oder auch vorhin, da saß zum Beispiel dort ein blauer Vogel. Ich sah ihn und hatte die bestimmte Vorstellung, er sei gekommen, um uns beide auszuspionieren. Kaum hatte ich das gedacht, da flatterte er auch schon weg. Als ob er sich ertappt gefühlt hätte. Dabei glaube ich kein bisschen an irgendwelche übernatürliche Erscheinungen. Ist doch alles Schwachsinn. An Geister glaube ich schon gar nicht. Und trotzdem habe ich immer wieder solche … solche … Ahnungen. Aber das trifft es nicht genau. Der blaue Vogel ist auch kein gutes Beispiel für meine gestörten Einfälle. Der kommt bloß aus meiner etwas überreizten Phantasie …«
    »Wahrscheinlich«, ruft Rosa, die längst zu dem Zweig hinschielt, auf dem der Eisvogel gesessen hat. Hat sie es nicht als böses Omen gesehen, seinen Abflug zu verpassen? Doch das ist jetzt ohne Bedeutung. Betroffen macht sie ihre Übereinstimmung mit Liliths Wahrnehmung. Und was verbarg sich hinter Liliths Anspielung auf Henry? Wenn Lilith und sie auch diesen Henry in gleicher verrückter Weise wahrnähmen?
    »… aber spinnen tu ich trotzdem nicht!«, fährt Lilith auf. »Wenn hier überhaupt jemand spinnt, dann ist es die Welt, die nicht spürt, was ich spüre!« Sie blitzt Rosa an, als sei sie richtig stolz auf diese Einsicht. »Gell?«, heischt sie nach Zustimmung.
    »Was soll die Welt spüren? Und was hast du damals gemeint, als du zu mir sagtest, Henry sei ein seltsam undurchschaubarer Mensch oder so ähnlich?«
    »Daran erinnerst du dich noch?«
    »Sicher. Dass du sein Umzugsgepäck inspiziert hast, daran. An einen fehlenden Jungen auf einer Fotografie an einem Rodeo. Du hast sogar behauptet, Henry komme dir vor wie eine Hülle ums Nichts herum .«
    »Alles Hirngespinste, gell? Das hast du doch gedacht, gib es ruhig zu!«
    »Nein. Ich habe mich bloß gewundert.«
    »Siehst du!«
    »Nicht so, Lilith. Wie gut dein sechster Sinn entwickelt ist, darüber wundere ich mich.«
    »Bitte, mach dich nicht über mich lustig.«
    »Mach ich doch gar nicht. Ich denke nur, dass wir beide das, was wir zu spüren meinen, nicht begreifen können.«
    »Wir? Du spürst es auch?«
    »Ich glaube schon, ja. Schließlich habe ich mit ihm getanzt.«
    »Sprichst du absichtlich in Rätseln?«
    Rosa atmet tief ein und aus und zeigt Lilith ihre offenen Handflächen, als bitte sie um Verständnis: »Ich glaube einfach nicht, dass man sich darüber verständigen kann. Auch wir beide sollten es gar nicht erst versuchen.«
    »Schon wieder ein Rätsel. Und die ungelösten, liebe Rosa, ertrage ich ganz schlecht. Ich würde einfach verflucht gern herausfinden, was in Henrys Vergangenheit geschehen ist.«
    »Und wenn er statt einer Vergangenheit etwas anderes hat? Wenn wir beide etwas ahnen, das wir nicht in Worte fassen können, weil es paradox und undenkbar ist?« Rosa blickt sie streng und prüfend an.
    Lilith schweigt und denkt, dass sie Rosas Gedankengänge wohl nie verstehen wird und auch nicht, warum sie nicht Klartext miteinander sprechen können. Warum diese Vorsicht, warum diese Kompliziertheit? Und doch begreift sie, dass Rosa ihr gerade stillschweigend einen Pakt angetragen hat. Also lächelt sie und sagt: »Ja, das ahnen wir, du und ich.«
    »Wenn ich nur mehr Zeit hätte!« Rosa steht auf und umarmt Lilith. »Willst du dich nicht auch noch ein bisschen hinlegen?«
    »Nur das noch, Rosa«, sagt Lilith, »ein Rätsel musst du mir doch noch auflösen: Warum hast du mich nach meinem Handy gefragt? Und ob ich den Kerl wohl aufs Bild gekriegt hätte?«
    »Weil ich herausgefunden habe, wie man es anstellt, dem Teufel in die Suppe zu spucken.«
    »Rosa!«, schreit Lilith halb belustigt und halb empört. »Bitte, bitte, keine Rätsel mehr. Ich frage dich erst wieder etwas, wenn ich meinen Schlaf nachgeholt habe.«
    Lilith wacht nachmittags gegen vier Uhr auf, weil Maurice sie auf die Schulter küsst. Sie tut, als spüre sie es nicht. Wie er aber – über Hals und Kinn sich vorküssend – ihren Mund erreicht, umschlingt sie ihn mit

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