Der Drache am Himmel
vorenthaltene Pokal beschäftigt ihn, dachte sie. Derweil lobte er Fisch und Gigot und ging sogar leicht in die Hocke, um den elf Jahre alten Lafite würdig einzuschenken. Doch wieder verriet er sich, weil er gedankenlos auch Rosas Glas füllte. Seine Gelassenheit war also nur äußerlich. Spontan dachte Réa daran, Henry anzurufen. Vielleicht ließe sich die Ungewissheit kurzerhand auflösen. Sie verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder, vermutlich wäre ein direkter Kontakt zum Konkurrenten jetzt ungeschickt.
»Es müsste unbedingt mehr den Charakter eines Gottesdienstes haben«, hörte sie Severin sagen. »Ich versteh ja, dass dir diese Sans Papiers ans Herz gehen. Und natürlich ist es ein Erfolg, dass du die TV-Crews herbekommst.«
Auch das kam Réa verdächtig vor. Warum widmete er sich plötzlich diesem Thema, dem er sonst immer aus dem Weg ging, und mied dafür das naheliegende? Sonst pflegten sie nach Regatten ausgiebig den Rennverlauf zu besprechen: Wie er bei der Allianz-Boje wertvolle Sekunden verloren oder warum im entscheidenden Moment die Kurbel der Fockwinsch außer Griffweite gelegen habe. Heute nichts davon. War es denkbar, dass er die Schotenregel doch missachtet und sich den Sieg erschummelt hatte? Dass ihn die unerwartete Stärke dieses neuen Konkurrenten zu einem Regelverstoß verleitet hatte? In den Vorläufen war Henry überhaupt nicht aufgefallen. Schon erstaunlich, wie dieser Lauterbach quasi aus dem Nichts heraus an die Spitze gefahren war.
»Hast du die Trophäe des seligen Salvatore?« Früher als erwartet war Rosa aufgetaucht. Quirlig wie immer. »Aber klar doch! Mein Glas steht ja schon zur Gratulation bereit!«, gab sie sich selbst die Antwort.
Réas Ja und Severins Nein kamen gleichzeitig. Rosa lachte und setzte sich: »Ihr sprecht aber schon von der gleichen Regatta?«
»Im Prinzip hat er ihn«, erklärte Réa.
»Also nicht. Ist aber nicht weiter schlimm. Der Pokal ist eh ziemlich hässlich. Um Salvatores Geschmack stand es noch schlechter als um seine Prinzipien.«
»Niemand zweifelt daran, dass du das beurteilen kannst«, kam von Severin.
Statt einer Antwort tätschelte Rosa ihrem Sohn die Hand. Mit der anderen hob sie ihm ihr Glas entgegen. »Auf die Prinzipien!«
»Auf meine oder deine, Mama?«
»Junge, Junge! Vielleicht sollten wir uns mal wieder unterhalten.«
»Reden hilft auch nicht immer.«
Rosa blinzelte, beschloss ihr Tätscheln mit einem sanften Streicheln und machte sich an den Fisch. Sie hantierte nahezu geräuschlos, als hätte jemand den Ton ausgestellt. Réa kam die Stimmung auf einmal brüchig vor. Natürlich war sie enttäuscht, dass sie Severins Sieg heute nicht feiern konnten. Sie hätte sich einiges an Vorbereitung und Vorfreude ersparen können. Aber es ging noch um mehr. Da lief etwas schief, und zwar schon länger.
Severin wurde ihr immer fremder und seltsamerweise bereitete ihr das ein schlechtes Gewissen. Heute Morgen hatte sie ihre Spazierfahrt mit dem invaliden Tutsi als eine Art Buße empfunden. Seinen schwer aussprechbaren Namen hatte der Junge selber auf Tensi verkürzt. Auf der Rollstuhlfahrt zum Fluss war er voll fröhlicher Redseligkeit gewesen. Sein Gemisch aus Kinyarwanda, Englisch und Deutsch war schwer verständlich, gewiss, aber nicht deswegen war sie kaum auf ihn eingegangen. Sie war schlicht abwesend und mit sperrigen Gedanken besetzt gewesen: ihre Entfremdung zu Severin und ihren Anteil daran. Warum fühlte sie sich so schuldig? »You have heavy mind?« , hatte der Junge auf dem Rückweg mit seiner weichen Stimme gefragt. Es hatte ihr einen Stich versetzt.
Rosa bereitete sich derweil mit ruhiger Gabel mundgerechte Häppchen vor und brachte sie elegant zum Mund. Der Ton schien jetzt wieder eingeschaltet, denn sie tat ihren Genuss mit winzigen gurrenden Lauten kund.
Im Übrigen herrschte Stille am Tisch. Severin schien vollauf damit beschäftigt, Rosas Schauspiel zu verfolgen. Dabei ist er sonst doch ausnehmend sprachmächtig, dachte Réa. Er predigt ebenso amüsant wie tiefsinnig. Aber wenn es um ihn selbst geht, fehlen ihm die Worte.
Sie kannten sich nun drei Jahre. Zu Beginn hatte es noch viele Gespräche gegeben. Sein Anekdotenschatz hatten sie amüsiert … und die Hagerkeit seines Körpers erotisiert – das auch. Aber eigentlich hatte sie sich in ihn verliebt, weil sie an seiner Seite ruhig wurde. Damals, nach chaotischen Jahren, hatte sie das sehr genossen. Severins ausgeglichene Abgeklärtheit hatte heilende Wirkung
Weitere Kostenlose Bücher