Der Drache am Himmel
Réa ein.
»Aldo braucht halt auch viel Zeit für seine Sammlungen.«
Bellini lachte unbekümmerter, als es Carlas Anwurf eigentlich hätte erwarten lassen. Aber die Überleitung zu seiner Larvensammlung wollte er sich keinesfalls entgehen lassen.
Er holte weit aus. Begann bei den Winterferien in Arosa, den Fastnachtsbräuchen dort und kam dann auf die Larvenschnitzer zu sprechen, deren Kunstfertigkeit er so bewunderte. »Dieser Zenzünen ist ein echtes Genie, wenn auch ein eher düsteres. Wusstet ihr eigentlich, dass er mit Hansruedi Giger verwandt ist? Also diesem berühmten Hollywoodfilm-Designer, dem Vampir-Spezialisten.«
Aldo fiel gar nicht auf, dass keiner seine Frage beantwortete. Er brannte darauf, endlich von dem Schnäppchen berichten zu können, das er gemacht hatte. »Knappe zweihundert für vierzig!«, posaunte er.
Alle hier kannten ihn gut genug, um zu wissen, was er meinte: zweihunderttausend Schweizerfranken für vierzig Larven. Wunderschöne, weil furchterregende Masken, handgeschnitzt und bemalt. Bei einigen von ihnen »könnte höchstens ein Blinder den Blick aushalten«, fasste er die Wirkung zusammen. »Selbst mein Herr Vater hätte sich abwenden müssen!« Er strahlte vor Genugtuung.
Réa sah monströse Fratzen mit blutroten Zahnstummeln vor sich, aus deren Augäpfeln tödliche Blicke schossen. Irgendwie schien Aldos Ausbruch von Leidenschaft sie fasziniert zu haben. »Können wir uns deine Neuerwerbungen nicht mal anschauen?«
Aldo griff ihren Vorschlag begeistert auf. »Von mir aus gleich – ist ja nicht weit«, sagte er.
»Geister so spät, die tun mir nicht gut, ich gehe lieber ins Bett«, sagte Rosa. Während die anderen noch das Für und Wider einer spätabendlichen Maskenbesichtigung abwogen, verabschiedete sie sich.
Doch dann kam sie noch einmal zurück, drückte Severin einen Kuss auf die Wange und sagte: »Das hab ich ganz vergessen: Herzlichen Glückwunsch, du Segelchampion.« Niemand bemerkte es, aber für Sekunden musste Severin mit den Tränen kämpfen.
Die andern blieben sitzen. Aber das Gespräch erschöpfte sich bald in müden Wortwechseln, wie letzte aufflackernde Flämmchen eines ausgehenden Feuers. Es war keine Rede mehr davon, noch zu den Bellinis zu gehen. Carla klagte über ihre Ängste vor einem Einführungskurs für Sterbebegleitung, der nächste Woche beginnen sollte. Aldo grummelte etwas von gewissen Machenschaften im Segelclub, über die er nicht reden wolle, und Réa pries Aldo zwei ihrer Sans Papiers an, die gewisse Erfahrungen im Textildruck hätten. Aldo überhörte es. Schließlich holte Severin seinen bevorzugten Cognac, einen Rémy Martin de Morât, um allen ein letztes Glas anzubieten. Nur Aldo wollte. »Dann nehmen wir aber auch eine Dannemann dazu«, sagte Severin. Aldo nickte, schaute fragend zu Carla.
»Alles klar, bleib nur.«
»Ich fahre dich nach Hause«, bot Réa ihr an. Meinetwegen fahre ich, dachte sie.
Kaum waren die beiden Freunde allein, packten sie Flasche und Gläser und traten in den Garten hinaus. Unter der Linde stand seit je ihr privater Stammtisch mit bequemen Hochlehnern. Der Specht schien sich zur Ruhe begeben zu haben. Severin holte die Zigarren und, weil die Nacht kühler war als erwartet, auch Mäntel und Decken.
Die Freunde vermummten sich mit gebührlichem Aufwand, als sei es Teil eines lustvollen Rituals. Denn nicht zuletzt von den Vorbereitungen hing es ab, ob ihre nächtlichen Zwiegespräche gelangen oder nicht.
Sie entzündeten die Zigarren und verfielen ins Schweigen; auch das war Tradition. Bis einer vorbrachte, was ihn wirklich beschäftigte, brauchte es diesen Vorlauf. Beiden waren diese nächtlichen Gespräche, die während ihrer Internatszeit begonnen hatten, heilig, auch wenn sie in letzter Zeit immer seltener wurden. Was dabei aufs Tapet kam, blieb strikt unter der Linde. Unter ihnen. Es ging niemanden etwas an, auch ihre Partnerinnen nicht.
»Dieser Pokal, dieser verfluchte Bellini-Pokal! Jetzt sichert sich mein alter Herr sogar noch einen Ehrenplatz im Haus meines besten Freundes! Er kann es nicht lassen. Cheers!«, hob Aldo an.
»Cheers!«, erwiderte Severin. »Ich tauche ihn, bevor ich ihn aufstelle, in Weihwasser. Das neutralisiert ihn.«
»Wenn’s nur nützt!«, brummte Aldo.
Severin wusste, was kommen würde. Denn neuerdings begann sein Freund fast jedes ihrer Vieraugengespräche mit einer Anspielung auf seinen Vater. Und kam dann schnell auf die aktuelle Geschäftslage der Création Bellini
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