Der Drache am Himmel
Rosa, die das Treiben gelassen beobachtete. Ihr blaues Kleid wirkte königlich und das Kelchglas in ihrer Hand wie ein Zepter. Plötzlich wandte sie ihren Blick ins Halbdunkel zu den Büschen. Dort versuchte Réa, nur noch in Büstenhalter und Höschen, ihren Severin ans Wasser zu zerren. Doch der Pfarrer schien wenig geneigt, sein Kardinalskostüm zu opfern. Réa gab auf, kam zum Pool gerannt und streifte sich die letzten Hüllen vom Leib. Ihre jähe Nacktheit aus weißer Haut mit schwarzem Schambusch und schweren Brüsten wirkte wie ein Schrei. Sie wandte den Kopf ins Dunkel, wo sie Severin vermutete. Aber Severin war weg und sie sprang.
Rosa schüttelte missbilligend den Kopf. Gerade wollte ich ihr zuwinken, doch da wurde ich von zwei Bällen gleichzeitig am Kopf getroffen. Und als ich Sekunden später wieder nach Rosa schaute, war sie verschwunden.
Die Badenden wurden immer ausgelassener. Und als sich starke Männer barbusige Frauen auf die Schultern setzten, damit sie in luftiger Höhe miteinander ringen konnten, versuchte Réa, mich als Pferd zu gewinnen. »Los, Henry, greifen wir in den Kampf ein!«
»Als Gaul bin ich eine Katastrophe.«
»Sind Sie nicht! Das sieht man sogar durchs Wasser!« Sie schob sich lachend die Haare aus dem Gesicht und versuchte erneut, meinen Rücken zu besteigen. Als ich wegtauchte, geriet ich ungewollt nah an ihre vom Wasser verwirbelten Schamhaare. Schnell kraulte ich an den Beckenrand. Ich war jäh sehr nüchtern geworden. War das nun eine dieser berühmten Versuchungen gewesen? Irgendwie erboste mich dieses Erlebnis. Man rief mich! Mitten im Bassin hatte sich ein Kreis um einen schwimmenden Serviertisch gebildet. Man wollte auf den Banker, einen gewissen Loretan, anstoßen, der vor zwei Stunden seinen achtundvierzigsten Geburtstag erreicht hatte.
»Stoßen Sie mit an, Henry«, rief Réa und zog mich in den Kreis hinein. Alle hatten sich gegenseitig die Arme übergelegt, um schunkelnd die obligate Hymne anzustimmen. Happy … lieber Lorry … to you! Die Gläser. Das Anstoßen. Bei vielen kam die Geste mehr fahrig als geführt. Ein Glas zersprang. Wie hypnotisiert schaute die ganze Schar einem Bruchstück nach, das wegtrudelte. Da tauchte Réa kopfüber ab, um mit den Lippen die Scherbe vom Bassinboden zu fischen. Man bewunderte Gewandtheit und Kunststück. Natürlich gab es Applaus, als sie mit der Scherbe im Mund wieder auftauchte. Mir raunte sie zu: »Können Sie das auch?«
»Dafür bin ich, glaub ich, zu nüchtern.«
»Dann tun Sie etwas dagegen! Einen Moment!«
Sie kraulte zum Beckenrand und kam mit einer fast vollen Flasche zurück. Dass ich in diesem Moment den Einfall hatte, ein Kabinettstückchen vorzuführen, ging keineswegs auf ihre Animation zurück. Aber ich fühlte mich geradezu verpflichtet, mich dieser betrunkenen Unvernunft anzupassen. Was ich zeigen wollte, ist im Übrigen ein echtes Kunststück. Ohne Trick geht es nicht. Ich schwenkte also, um Aufmerksamkeit heischend, die Flasche über meinem Kopf, tauchte dann ab und trank, unter Wasser auf dem Kopf balancierend, die Flasche leer. Als ich keuchend wieder auftauchte, wurde ich von Applaus und Lachen empfangen. Réa schenkte mir ein bewunderndes Schulterklopfen. Da bemerkte ich am Rand des Pools Rosa, die das Spektakel beobachtet hatte. Schlagartig fühlte ich mich beschämt und irritiert, besonders, weil sie mir zulächelte. Diese alte Lady durchschaut mich, fuhr mir durch den Kopf. Und diesen Gedanken vermochte ich kaum mehr zu verscheuchen …
Noch lange lag ich wach an Barbaras Seite. Wie ruhig sie atmete … Ich versuchte mir bewusst zu machen, was ich an diesem Abend alles erlebt hatte. Im Grunde konnte ich hochzufrieden sein. Ich war von liebenswerten Menschen freundlich aufgenommen worden. Natürlich hatten sie ihre Probleme, ihre Schwächen – Carla war ihrer Privilegien nicht mehr froh, Aldo kämpfte gegen die Schatten seines Übervaters, Réa verzettelte sich wohl etwas mit ihren guten Taten und Pfarrer Severin gab zu, kein Heiliger zu sein …
Barbara drehte sich mit wohligem Ächzen um und schlief gleich weiter. Unvermittelt sprang mich eine seltsame Wehmut an. Wie gern hätte ich jetzt mit ihr über meine Vergangenheit gesprochen. Wie gerne hätte ich mein Herz ausgeschüttet, wie man so sagt. Dass dies nicht möglich war, bedrückte mich. Aber noch belastender war, dass ich nicht verstand, woher dieses plötzliche Verlangen kam. Wie konnte ich meiner Mission Genüge tun, wenn ich mich
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