Der Drache am Himmel
auf sie gehabt. Hatte ihre Umtriebigkeit zu dämpfen vermocht. Leider hatte die Wirkung im Laufe der Zeit nachgelassen. Jetzt war ihre innere Unruhe wieder da. Aber hatte das wirklich so viel mit Severin zu tun? Manchmal glaubte Réa, die wahre Ursache zu kennen: ihre Angst, als Künstlerin nicht das ausdrücken zu können, was ihr vorschwebte …
Ach, Severin! Was soll bloß aus uns werden? Jetzt kam ihr seine Ruhe häufig als Zaudern vor. Er zögerte und wartete, auf was immer, und schwieg dabei. In ihrem ersten gemeinsamen Monat hatte er ihr mehr Worte gegönnt als im ganzen letzten Halbjahr.
Wieder fiel ihr Henry ein, der bestimmt nicht an dieser typisch männlichen Sprachverstopfung litt. Wegen der Sans Papiers wollte sie sowieso noch einmal mit ihm sprechen. Sie hatte ihn in den letzten Wochen mehrmals getroffen und war nach jedem ihrer Meetings richtiggehend beschwingt nach Hause gekommen. Henry hatte immer so gute Ideen. Auch die Kontakte zu dem Fernsehteam verdankte sie ihm. Und dabei war er stets höflich und zuvorkommend. Und wie beeindruckend, dass Henry immer Zeit fand, obwohl er doch ein so viel beschäftigter Mann war …
»Die Prise Koriander, ganz köstlich!«, murmelte Rosa und riss Réa damit aus ihren Gedanken.
»Schön, dass es dir so schmeckt, Mama«, sagte Severin.
Unwillkürlich verdrehte Réa die Augen. Diese Schlawiner! Tauschten Höflichkeiten aus und waren doch eigentlich gereizt, das spürte sie. Da schwelte doch was …
»Nicht böse sein!« Rosa lächelte Réa freundlich zu. »Das sind alte Familiengeschichten.«
Mit unterdrücktem Zorn griff Réa zum Tablett und räumte den Tisch ab. »Ihr entschuldigt mich! Ich rufe jetzt den Henry an, damit sich zumindest die neueste Familiengeschichte klärt.« Um unter der Verandatür, als ob sie Severins entgeisterten Blick gespürt hätte, zu brüllen: »Natürlich rufe ich ihn nicht an!«
Severin schwieg, Rosa schwieg. Drinnen klingelte das Telefon. Einmal. Zweimal. Dann schien Réa an den Apparat zu gehen, denn er verstummte.
Rosa sagte: »Sag, Severin, bedrückt dich etwas? Ich meine – abgesehen von dem Pokal. Manchmal denke ich, dass du viel zu streng zu dir bist. Es bringt doch nichts, sich selbst so hart zu beurteilen. Ich jedenfalls überlasse das dem Jüngsten Gericht. Falls es so etwas überhaupt gibt. Ich werde es vor dir erfahren. Und werde es dich wissen lassen.«
Severin versuchte sich an einem Lächeln.
»Und den Kerl da oben« – Rosa kam jetzt richtig in Fahrt – »den stelle ich mir eigentlich ziemlich großherzig vor. Wie einen gnädigen alten Mann. Manchmal, denke ich, dass er mir zuzwinkert und sagt: Ach, Rosa, du brauchst deine Schwächen doch nicht zu verstecken. «
»Was glaubst du eigentlich«, sagte Severin gereizt. »Das ist doch alles längst vorbei!«
Rosa schien genau zu wissen, worauf er anspielte. »Nein, Severin, es ist nie vorbei«, sagte sie. »Im Kern bleiben wir, wer wir sind. Dort sind wir zu Hause, ob uns das nun passt oder nicht. In diesem Kern gibt es ja auch dunkle Räume. Davon spreche ich: davon, wie wir mit den dunklen Räumen umgehen, wie du mit den …«
»Mama, rühr nicht an Dinge, von denen du nichts verstehst. Im Übrigen habe ich meine Prinzipien. Aber vielleicht weißt du gar nicht, was das ist.«
»Na ja! Ein paar habe ich wohl retten können. Und im Übrigen: Ein paar meiner dunklen Räume habe ich auch abgeschlossen. Die, die mir allzu unheimlich waren. Heute aber weiß ich, dieses Zusperren funktioniert nicht.«
»Musst den Schlüssel halt zweimal im Schloss drehen, dann ist mit Sicherheit zu.«
»Und das nächste kleine Beben rüttelt die Tür aus den Angeln … Ach, Severin!«
»Herrgott! Hör auf! Ich verstehe gar nicht, was du von mir willst. Und überhaupt verstehe ich nicht …«
In diesem Moment erschien Réa in der Verandatür. Sie wirkte wie ausgewechselt, fröhlich und ein bisschen aufgeregt. »Stellt euch vor, wir kriegen gleich noch Besuch«, verkündete sie strahlend. Aldo und Carla Bellini würden kurz vorbeischauen. Sie hätten eine schöne Überraschung. Es war ihr anzusehen, dass sie gerne mehr verraten hätte.
Aldo ließ den Korken schon drinnen knallen, sodass der Schaum ihm voraus auf die Veranda zischte. Carla und Réa warteten ab, bis er den Gratulationstaumel mit der Umarmung seines Freundes Severin abgeschlossen hatte. Jetzt sei die Sache geklärt, nun könne niemand mehr Zweifel haben! »Jetzt musst du nur noch versprechen, das Ding zweimal im
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