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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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Sein Auditorium wartet unsichtbar unten im Garten. Er wird es provozieren müssen. Freigelegt am Handgelenk die Armbanduhr: zehn vorbei. »Liebe Gemeinde«, bringt er mit schwerer Zunge vor, »liebe Gemeinde, soeben war es zehn Uhr. Ich trinke Jägermeister, weil die Frau des Pfarrers g-geil ist … wie die Hure Ba-babylon. Amen.« Er kichert. Er ist aufgewühlt, betrunken und fickrig. Sein Ego blutet. Sein kritischer Verstand nimmt sich eine Auszeit. All das sagt ihm seine innere Aufsicht, die immer noch Dienst tut. Wenn er kichert, dann auch über sich selbst.
    »Hör zu, Réa, hör mir zu!« Von drinnen kam laut und deutlich und eindeutig Henrys Stimme. Severins Sinne sind schon geschärft, als er ins Zimmer hastet. »Küss mich einfach. Lieb mich. Ich will mit dir schlafen!« Das war Réa. Réa!
    »Das kann nicht sein. Hörst du mich überhaupt?« Der Mann!
    »Niemand muss es wissen.« Die Frau!
    Eine unverständliche Passage, dann:
    »… kann nicht sein, weil es nur Schmerz bringt.« Der Mann!
    Geraschel. Getrampel. »Bitte! Halt das fest! Sei fair und halt das fest.« Die enervierte Stimme des Mannes namens Henry.
    Was geschah, erschien ihm bösartig. Im Irrglauben, er sitze, wollte sich Severin in die Lehne zurücksinken lassen. Da er aber stand, geriet er in Rücklage und seine Knie sackten weg. Er prallte auf Steißbein und Ellbogen. Der Schmerz war höllisch. »Du hast auch allen Grund dazu …« , tönte der Mann vom Band, als würde er den Käfer verspotten, der hier auf dem Boden zappelte. Kurz befürchtete Severin, er würde gleich noch mit einem höhnischen Gelächter überschüttet. Es fiel aber eine Tür ins Schloss. Das war also Henrys Abgang gewesen, dachte er und vergewisserte sich mit einem Blick, dass seine Tür zu war. Vom Band kamen nur noch diffuse Geräusche. Severin kippte zur Seite und erbrach sich. Es ekelte ihn. Er erschauderte und gewann ein Stück Nüchternheit zurück. Sich aufzusetzen misslang aber, weil ihn im Steißbein ein greller Stich durchfuhr. Es war zu demütigend! »Er tritt mich in den Hintern. Genau das tut er«, stöhnte Severin, »dieser Ehrenmann, dieser Hundsfott von einem Ehrenmann.« Trotz Dusel und Übelkeit war ihm nur zu bewusst, dass er von lauter Heinrichen umstellt war. Ein Henry drückte ihm einen Pokal in die Hand, ein anderer Henry hievte ihn in ein Vorstandsamt, ein dritter schob ihm Réa ins Bett zurück und trat ihn ins Steißbein.
    Vorsichtig streckte er seinen Körper. Stehend würde er seine Wut besser ertragen können. Er rappelte sich auf. Aber er fühlte sich trotzdem nur als ein sich reckender Gockel, dem jemand gerade die Schwanzfedern ausgerissen hatte. Dieser Jemand hieß Henry und war sein Freund. Hatte Anstand und Herz. War ihm ein belesener Gesprächspartner. War hilfsbereit und loyal. Alles war er, nur nicht erträglich. Während Severin das dachte, drückte er auf Eject. »Sogar deinen Schwanz hast du im Griff«, keuchte er. Die Kassette warf er in den Papierkorb und die Flasche hinterher. »Ich will dir etwas verraten, mein Freund. Es wäre anständiger gewesen, du hättest dir meine Réa genommen. Aber sie war dir wohl nicht gut genug. Sag ja nichts. Ich weiß, dass ich mich lächerlich mache. Aber ich lebe. Ich habe Blut in den Adern. Ich kann leiden. Ich kann stürzen. Ich bin mir nicht zu schade, ein Mensch zu sein …«
    Huschen das Münster entlang, seitlich die Pforte zum Vorraum, dort die Wendeltreppe, die Michaelskapelle. Beladen zurück und hinunter in die Kellerräume. Im Heizungsraum zog er sich um. Der Umhang lag köstlich schwer um seine Schultern. Als der Brenner plötzlich fauchend ansprang, zuckte er zusammen. »Ruhig, Severin, ruhig«, ermahnte er sich. Die Leuchtfarbe gehörte in die linke Tasche. Das Schaltkästchen mit Batterie in die rechte. Die Drähte saßen fest. Die Ledergurte waren genau richtig. Eigentlich durfte er stolz sein. Der monströse Kopf passte genau in den Sack. Trotz Rausch war er ganz bei der Sache. Das war seit jeher sein Geheimnis: beherrschte Lust.
    Ein Ziel gab es nicht. Über die Kellertreppe erreichte er den Garten, über den Zaun das Sträßchen zum See. Dass beidseitig hinter den Hecken Villen standen, war nur zu ahnen. Er schritt zügig voran, jederzeit bereit, sich ins Buschwerk zu drücken. Doch eigentlich war eine Überraschung auszuschließen. In dieser Gegend schlief man sittsam früh. Wenn einer noch spät unterwegs sein sollte, dann im Wagen. Den würde er rechtzeitig hören, selbst

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