Der Drache am Himmel
wenn er aus einer Seitenstraße einböge. Rechterhand begann das freie Feld, das sich zur Kaserne der Feuerwehr erstreckte. Im Obergeschoss war Licht, vermutlich in der Dienstwohnung des Küsters. Der hatte wohl wieder seine Skatgenossen …
Dorthin übers Feld? Auf seine Intuition konnte er sich verlassen. Also bog er links Richtung Fluss ab. Schnurgerade und seltsam schwarz lag die Straße vor ihm. Natürlich! Letzte Woche hatten sie hier den Asphalt erneuert. Es war eine menschenleere Sackgasse, die am Schluss zu dem buckligen Erdwall anstieg, auf dem ein halb fertiger Brückenpfeiler ins Dunkel ragte. Weil das Brückenprojekt seit Jahren feststeckte, querte bislang erst ein provisorischer Steg den Fluss. Kaum jemand nutzte ihn.
Beim Pfeilerstumpf machte Severin halt, nahm den Sack vom Rücken und schälte das Ding heraus. Zehn Meter tiefer schossen die Wassermassen unter dem Steg hindurch auf die Schleusen des Kraftwerks zu. Am gegenüberliegenden Ufer wurde wieder gebaut. An einer Baubaracke hing eine Informationstafel, die mit Spotlampen bestrahlt war. Dass die auch nachts brannten? Ihr Licht streute bis zum menschenleeren Steg. Die verrammelten Zugänge nahm Severin wahr wie etwas, was ihn nichts anging. Viel mehr beschäftigte ihn, wie sich die rote Leuchtfarbe, die er sich eben aufsprühte, wieder entfernen ließe. »Panik leiste ich mir später«, knurrte er, »nüchtern betrachtet ist sowieso alles lächerlich«, und bedeckte sich mit dem Umhang. Als er die Dose in die Tasche zurückschob, fiel sein Blick zum zweiten Mal auf die Absperrung. Diesmal machte sie ihn fassungslos: Bislang hatte er kein Ziel gehabt. Aber nun kam ihm die Verrammelung wie schiere Boshaftigkeit vor. Jetzt wollte er unbedingt über den Fluss! Und jemand hatte ihm absichtlich den Zutritt in sein Reich erschwert. Zumindest einen Vorstoß hatte er gut! Aber nochmals würde er sich nicht demütigen lassen. Schließlich war die schwarze Straße voller Versprechungen gewesen. Unvermittelt war das Hochgefühl eingefahren, auf das er süchtig war. Lustvolle Bilder hatten sich eingestellt – Windstöße blähen seinen Umhang, dass er knattert. Ein Getier erwacht und beginnt sich zu regen. Jetzt merken es die Elfen. Fliehen wollen sie, doch sind sie schon verhext. Sie wollen die Augen schließen, doch die verweigern sich. Umsonst schütteln sie sich die langen Haare übers Gesicht. Ihr Keuchen pustet sie weg. Derweil streckt sich die Schlange und streckt sich, bis sie glüht. Hebt majestätisch ihren schönen Kopf. Züngelt und ihr Züngeln schleudert Gifttropfen auf die Elfen. »Er kommt, er kommt, der Teufel ist los«, schreien sie und stieben davon. Ihre spritzen Schreie fahren tief in die Rinden der Bäume –
Severin nahm sich die Maske vor. Seine Begierde wuchs mit jedem Handgriff. Das Revier dort drüben, das Wohnviertel, stand ihm zu. Wie erregt er war! Seine Finger zitterten, als er die Kapseln überprüfte. Sie würden hinter den Augenhöhlen die Bengalstäbe entzünden. Die würden loszischen und mit infernalischer Hitze abbrennen. Deshalb hatte er den ganzen Hohlkörper feuerfest ausgekleidet. Zwar thronte sein zweites Gesicht oberhalb seines Kopfes; er selbst blickte durch die Schlitze im Hals. Aber es würde heiß werden. Darauf freute er sich. Er war bereit. Die Zeit der Demütigung war vorbei. Nur Käfer blieben auf dem Rücken liegen. Er aber stand hoch auf der Böschung. Niemand sah ihn, niemand kannte ihn. Die Schwierigkeiten am Steg? Er würde sie überwinden. Seine Uferseite war die dunklere und der Abhang mit Gestrüpp bewachsen. Réa warf sich Henry an den Hals und ließ sich von einem anderen bumsen – konnte ihn das verletzen? Und wenn schon: Er heilte sich selbst. Im Übrigen sah er jetzt alles viel klarer: Von Henrys Abweisung verstört, hatte sie sich ein wenig tröstende Lust bei dieser schwarzen Schlange geholt. Ja, er sah klarer. Am Anfang stand immer Henrys Gutmenschentum. Das galt auch für ihn. Ganz am Anfang stand Henrys scheinheiliger Verzicht auf den Sieg bei der Regatta.
Vielleicht hatte es nur eines Auslösers bedurft. Severin hört ein Kichern. Es kommt vom Uferweg unter ihm. Zu sehen ist nichts und dann doch. Zwei Gestalten zeichnen sich vor dem dahinschießenden Wasser ab. Bald werden sie direkt unter ihm sein. Sie lachen, lachen hell wie Mädchen. Dann bleiben sie stehen und verschmelzen, bis ein Flämmchen kurz ihre Gesichter erhellt. Gleich darauf tanzen zwei niedliche glühende Pünktchen
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