Der Drache am Himmel
Haltung sei unreflektiert und eindimensional, sagte er. Der Mensch sei nicht Untertan der Logik oder der Vernunft. So wenig wie er Untertan des Guten sei. Vernunft und gutes Handeln sei bloß eine Option. Sonst wäre seine Freiheit nichts wert und so weiter. Ich hatte ihn zu provozieren versucht: »Demnach ist gutes Handeln gar nicht immer gut?«
Seine Antwort verblüffte mich. Er sagte nämlich schlicht: »Stimmt.«
Ich darauf: »Aber wenn ich stets das Gute tue, schaffe ich doch nie Böses!«
»Doch, das ist möglich!«, sagte er.
Ich verstand ihn nicht, aber mir kam meine unsägliche Vergangenheit in den Sinn.
Am Eingang des Münsters drückten Schulkameradinnen des toten Mädchens jedem Eintretenden ein Röschen in die Hand. Die Bänke füllten sich. Vor mich schob sich der Dekan der theologischen Fakultät.
Ich hing schweren Gedanken nach, denn Barbara hatte mir am Vorabend erzählt, was Carla ihr anvertraut hatte: Réa habe ein Verhältnis mit einem gewissen Shandar, einem ihrer Sans Papiers. Ebendiese Réa schob sich kurz danach in unsere Bank. Maurice hatte ihr neben sich einen Platz freigehalten, links von ihm saß Lilith. Réa nickte mir mit verhangenen Augen zu. Der Blick war nicht zu deuten. Litt sie etwa um meinetwillen? Das durfte nicht sein. Meine gestrige Abweisung durfte keinen demütigenden Nachklang haben. Ich erhob mich, um ihr über Lilith und Maurice hinweg die Hand auf die Schulter zu legen. Sie sprang auf. Beidhändig umschloss sie meine Rechte und schüttelte sie, ließ sie aber jählings fallen und setzte sich wieder. Lilith hatte mich beobachtet. Ihr Blick sprach Bände: Du nervst, und wie du nervst, du Blödmann. »Warum wirkst du so aggressiv mir gegenüber?«, fragte ich sie flüsternd.
Eben hatte die Orgel eingesetzt. Der Chor der Konfirmationsklassen gruppierte sich mit Schubsen und Rangeln dauernd um, weil alle lieber geschützt in zweiter oder dritter Reihe stehen wollten. Der baumlange Vikar griff ein. Und erst jetzt reagierte Lilith. Sie flüsterte mir zu: »Je weniger du machst, desto besser für alle.« Fast gleichzeitig erhielt ich von Barbara auch ins andere Ohr eine Botschaft geflüstert: »Eine Vettel, die Réa! Pass auf, dass sie nicht auch dich ansteckt.«
Meine Verwirrung löste sich beim Lied nicht auf, das die Jugendlichen mit anmutigen Stimmen vortrugen. Ich sann Liliths zornigem Ausspruch nach und dachte gleichzeitig an Severin. Er war nicht zu sehen. Wahrscheinlich saß er, geborgen von der Holzumwandung, auf der Kanzel. Wie schwer musste es ihm fallen, sich alsbald den achthundert Augenpaaren zu stellen, darunter denen Réas und des Dekans der theologischen Fakultät, die ihn verschmäht hatten! War das jene Demut, die seine Religion pries? Dass einer doppelt gedemütigt sein Amt ausüben musste? Aber wie kann jemand Trost spenden, der selbst trostloser Stimmung ist?
Ich hatte mich umsonst gesorgt. Kraftvoll tönte seine Stimme, nachdem er aufgetaucht war. Klar sprach und grimmig wirkte er. Er sei, wie alle hier, tief erschüttert. Er habe sich geprüft und gefunden, dass seine Erschütterung viele Facetten habe. Natürlich sei Trauer die eine. »Unsere allseits geliebte Katja ist nicht mehr. Schier unerträglich ist der Schmerz bei euch Eltern, dir, Bruder Levin, euch, Patin und Pate, Verwandten, Freundinnen und Freunden.« Wie ein böser Traum komme uns das alles vor. Es dürfe einfach nicht wahr sein! Und groß sei unser Verlangen, die Tragödie ungeschehen zu machen. »Aber wir alle, die wir Katja nahe waren, verspüren auch Verzweiflung und …« Severin schien ein Wort zu suchen, aber so effektvoll, wie er es schließlich ausstieß, war es ihm wohl nur um eine Kunstpause gegangen. Er bellte es geradezu heraus: »… Wut! Ja, wir sind auch wütend!«
Er selbst würde am liebsten den Schöpfer anklagen: »Wo warst du, als diese unschuldige junge Frau deinen Beistand brauchte?« Er habe nicht übel Lust, Gott eine ganze Reihe solcher Fragen zu stellen! Ob das aber zulässig sei? »Nein! Das ist es nicht.« Der liebende Gott könne nichts für das Böse. »Wer also trägt die Schuld? Das Böse selbst! Sine diabolo nullus dominus, heißt es. Wo ein Gott, ist auch ein Teufel, der Gott schaden will.« Diesem Widersacher müsse unser Zorn gelten. Nun heiße es ja oft, Trauer solle man still und demütig ertragen. Groll und Zorn würden nur neuen Schmerz bereiten. Nun, das sei alles wahr und weise. »Aber«, sagte Severin und ließ dieses Aber vieldeutig lange
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