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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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hatte. Nie hatte ich diese bisher mit den Auftritten des Maskierten in Verbindung gebracht. Schon mein Verdacht war mir zuwider. Da konnte es doch keinen Zusammenhang geben! Meine Menschenkenntnis konnte, nein: durfte so schlecht nicht sein!
    Zur Trauerfeier für das Mädchen erwartete man Hunderte. Lilith hatte die in den Tod getriebene siebzehnjährige Katja recht gut gekannt und zog sich in Schweigen zurück. Die Presse, die den Exhibitionisten zum neurotischen, aber harmlosen Spinner erklärt hatte, wütete jetzt zwei Tage lang über die »kriminell nachlässige« Polizei, die den Mann als harmlosen Spinner unterschätzt habe. Die Öffentlichkeit, angeführt vom Bürgermeister, sah es genauso. Er habe die Polizei strikt angewiesen, endlich ihre Pflicht zu tun. Und die Création Bellini machte von sich reden, indem sie für sachdienliche Hinweise eine Belohnung von zehntausend Euro aussetzte. Die Konfirmationsklasse des Mädchens unterhielt am Fluss, inmitten eines rasch wachsenden Blumenmeers, eine Mahnwache. Ich selbst legte, begleitet von Barbara, auch einen Strauß nieder. Zufällig vernahm ich, wie Lilith Maurice davon berichtete. »Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut«, hörte ich sie sagen und es klang beinahe wohlwollend.
    In Merlingen herrschte die Betroffenheit des Kleinstädtchens, in dem fast jeder jemanden kannte, der mit der Familie des Opfers verbunden war. Was man auf diese Weise nicht erfuhr, stand im Lokalblatt. Katja wurde von allen als fröhliche, kluge, hilfsbereite junge Frau beschrieben. Auf den Fotos war sie eine Schönheit. Auch die Bildunterschriften hoben ihre Attraktivität hervor, als offenbare sich dadurch erst recht die Ruchlosigkeit der Tat.
    Die Aussagen des überlebenden Mädchens blieben eher diffus. Die Gestalt, die sie beschrieb, war nicht recht greifbar. Ein Riese sei es gewesen. Aus Hörnern an seinem Schädel seien Feuerstrahlen geschossen. Gebrüllt habe er wie ein Stier. Nein, natürlich glaube sie nicht an den Teufel. Den gebe es ja nicht, doch dieser da sei trotzdem einer gewesen. Er sei ihnen nämlich durch die Luft entgegengeflogen. Das allerdings stimmte nicht mit dem nüchternen Befund der Polizeibeamten überein, die Fußabdrücke sichergestellt hatten. Maurice hatte von Rosa erfahren, dass die Trauerfeier im Münster stattfinden und von Severin geleitet werden würde, obwohl er gerade Urlaub hatte. Er war Katjas Pfarrer gewesen, hatte sie vor einem Jahr konfirmiert und die Eltern des Mädchens hätten ihn inständig um diese Geste gebeten. Auch die Polizei tat ihre Pflicht. Einen Tag vor der Trauerfeier wurde der Täter verhaftet: Er war bei den Wasserwerken angestellt, vierzig Jahre alt, Einzelgänger und Mitglied einer Karnevalsgesellschaft. Da hatte man ihn, den Maskierten! Außer dieser tödlichen Attacke machte man ihn für alle früheren Auftritte verantwortlich. Das Lokalblatt sprach von widersprüchlichen Indizien. Er habe ein Teilgeständnis abgelegt. Als Lilith das las, meinte sie nur: »Dieses Aas.«
    Es waren aufwühlende Tage. Die öffentliche Welt des Städtchens war durcheinandergeraten. Leserbriefe verrieten Trauer und tiefe Anteilnahme, aber auch Lust auf Lynchjustiz. Eine schöne junge Frau sei von einem Perversen ermordet worden und peinigend sei die Vorstellung, der Täter käme wegen sogenannter fahrlässiger Tötung mit einem oder zwei Jährchen davon.
    Auch in meiner privaten Welt war einiges aus den Fugen geraten. Aldos hektische Aktivitäten irritierten mich (davon später) und der Vorfall mit Réa hatte mich seltsam bedrückt zurückgelassen. Ich erklärte es mir damit, dass sie mich überrumpelt hatte. Aber womit eigentlich? Mit ihrer Nacktheit? Ihrer Leidenschaft? Ich sah sie wieder und wieder auf mich zukommen im reizvoll aufklaffenden Umhang, der ihren Schambusch und ihre fülligen Brüste enthüllt hatte. Sie hatte betörend gut gerochen, auch das war mir geblieben. Aber das waren trotzdem nicht mehr als Sinneseindrücke, also vergänglich und flüchtig. Nein, ich bereute nicht, sie abgewiesen und verzichtet zu haben. Uns beiden wären vermutlich ein, zwei Stündchen Lust geschenkt, dafür ihrem Severin und meiner Barbara hundert Leidensstunden beschert worden. Meine sogenannte Standhaftigkeit entspringt also keiner moralischen, sondern einer vernünftigen Haltung. Ich verstehe nicht, warum sich die Menschen so oft um so einfache Einsichten drücken. Einmal war ich mit Severin darüber in einen heftigen Disput geraten. Meine

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