Der Drache am Himmel
im Raum schweben, »aber Wut tut auch gut!«
Ich hörte förmlich, wie sich Irritation ausbreitete. Aus allen Bankreihen kam das Ächzen und Knarzen derer, die sich bequemer zurechtrückten. Als ob Empörung knistern könnte, dachte ich. Ich schielte auf die Gesichter neben mir. Lilith und Maurice weinten. Barbara schaute wie gebannt zu Severin auf, bereit, auch die fürchterlichsten Wahrheiten zu ertragen. Ich folgte ihrem Blick: Severins Gesicht glänzte vor Schweiß. Er wirkte tatsächlich empört und etwas fanatisch, aber auch erhaben oder stolz wie ein Prüfling, dem soeben die richtige Antwort eingefallen ist. Dass ich auf diesen Vergleich kam, verwunderte mich selbst. Aus welcher Nische hatte mein Hirn bloß diese Assoziation hervorgekramt? Warum schien mir plötzlich alles so unecht? Woher kam Barbaras ergebener Blick? Und warum knistert Empörung? Ich verlor den Anschluss. Nur noch verschwommen nahm ich die Gedanken auf, die Severin klug entwickelte – dass die wirkliche, die heilende Trauer erst möglich werde, wenn das Herz von Wut befreit sei. Dass erst durchlittene Wut frei mache für …
So oder so ähnlich predigte er, klagte er, beschwor er einen Geist, den er den Heiligen nannte, und mich durchströmte plötzlich eine fremdartige Mattigkeit. Wie Fieber war es. Mich schauderte, mir schwindelte. Severins Stimme erreichte mich nur noch von fern. Ich saß da, ergeben und mir fremd wie noch nie. Flüchtig, als sei es eine bloße Erinnerung, nahm ich Barbaras warme Hand wahr. Es war gespenstisch. Doch Angst hatte ich nicht. Eher empfand ich eine Art Glückseligkeit, wie jemand, der nach langer Irrfahrt endlich nach Hause kommt. Für einmal war Stille in mir. Irgendein wohlgesinnter Geist musste mich aus der Wirklichkeit entlassen haben. Diesen Gedanken vermochte ich gerade noch zu fassen, als mich eine Erscheinung überwältigte – ob Einbildung, Wahnvorstellung oder Trugbild: Sie! Sie war da! Noch bevor ich glauben konnte, was ich sah, hörte ich ihre Stimme: Mein irdener Geselle! Ist es dir eine Genugtuung, mein Heinrich? Jener dort auf der Kanzel redet sich ins Fegefeuer; ins Fegefeuer, das er am Fluss selber entzündet hat. Er beklagt das Böse und ist es selbst! Ist es das, was du erreichen wolltest? Zu unwahrscheinlich, was mir geschah! Ich war viel zu erschüttert, um sofort verstehen zu können, was sie meinte. Ich muss ein einziges Starren gewesen sein: Meine Meisterin stand mir vor Augen! Sie, die mir von meinem Vorhaben abgeraten hatte. Sie, die mir prophezeit hatte, ich würde in Teufels Küche geraten. Wir waren doch in der Kathedrale! Sah ich eine weise Göttin? Ein starkes Weib? Eine schöne Hexe? Ich erinnere mich nicht, wie ich auch nicht mehr weiß, ob sie groß und füllig, klein und fein, rothaarig oder blond gelockt war. Was mir blieb, ist nur das Bild ihrer Vollkommenheit … Es sollte das einzige Mal sein, dass ich sie erkennen konnte. In späteren Eingebungen war sie eine Stimme ohne Gestalt.
In ebendiesem Moment lehnte Barbara ihren Kopf an meine Schulter. Ich hörte sie leise schluchzen und stellte mir unwillkürlich die Tränen vor, die ihr über die Wangen liefen – doch verzweifelt wehrte ich mich, aus meiner Entrückung gerissen zu werden. »Nicht jetzt!«, flehte ich inständig. Gern wollte ich Barbara ein Zeichen des Trostes geben, aber bitte nicht jetzt!
Lass gut sein, vernahm ich jene Stimme. Tröste deine Frau ohne Scheu. Du wirst mich darob nicht verlieren. Von jetzt an bin ich an deiner Seite. In mir schrie es: Was hat sie da gesagt? Wer redet sich ins Fegefeuer? Wer soll am Fluss unten …? Und mich dünkte, ich hörte sie traurig sagen: Ein guter Freund warst du Severin. Dass er seinen bösen Spuk trieb, ist deine Schuld nicht. Und das ist es doch, was du erforschen willst … Ein Stich? Ein Schlag? Lilith hatte mich in die Wade gekickt und raunte: »Sei doch mal ruhig! Wie du ständig herumrutschst! Echt peinlich!« Ihre Augen waren voller Tränen. Mein Gesäß auf der harten Kirchenbank, an meiner Schulter Barbaras Kopf, in meinem das Durcheinander; jedoch vernahm ich wieder Severins Stimme:
»… unsere Katja musste sterben, weil jener Mensch zu schwach war, dem Bösen zu widerstehen. Er war zu schwach, als das Böse seine dunklen Triebe anstachelte. Dürfen wir ihn deswegen verurteilen? Und wer würfe den ersten Stein? Nichts dürfen wir, weil wir nichts wissen. So wie Gottes Wege unerforschlich, sind Satans Machenschaften undurchschaubar. Wir wissen
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