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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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nicht, mit welchen Raffinessen jener arme Mensch zum und vom Bösen verleitet wurde. Wir wissen nicht, weshalb sich der Böse ausgerechnet ihn zum Werkzeug nahm. Nach Vergeltung ist uns zumute. Rache, dünkt uns, könnte unseren Schmerz etwas lindern. Doch das ist ein Irrtum. Ein gefährlicher Irrweg. Denn auch das Verlangen nach Rache ist eine Versuchung. Nur Jener hätte etwas davon. Noch mächtiger würde er …«
    Nach Liliths Zurechtweisung hatte ich Barbaras Schläfe gestreichelt. Wohl hatte es mir getan, wie eine köstliche Eindeutigkeit war es mir vorgekommen. Danach hatte ich Severin mit Verbissenheit zugehört, zornig darauf aus, ganz und gar in der Wirklichkeit zu bleiben. Doch nun fühlte ich mich zurückgestoßen in diese Stadt, in diese Wirklichkeit. Ekel und Hilflosigkeit waren in mir. Erst jetzt drang in mein Bewusstsein, was mir da offenbart worden war. Um mein Entsetzen zu mindern, sagte ich mir, dass ich es intuitiv längst geahnt hatte. Nichts minderte sich.
    Da hörte ich Barbara flüstern: »Berührend, was Severin sagt!« Und ich spürte, dass ich nichts darauf erwidern konnte.
    Mächtig hatte die Orgel eingesetzt. Aus dem Nichts fluteten die Klänge das ganze Kirchenschiff. Musik ist vielleicht der einzige Hinweis auf einen guten allmächtigen Geist. Dieser Gedanke kam so unerwartet, dass ich zusammenzuckte – und neben mir zischte Barbara: »Du tust mir weh. Willst du meine Hand zerquetschen?«
    Ich musste mich vergessen haben. Dafür war ich jetzt endgültig zurück und wieder bei mir, wo immer das ist in diesem Augenblick sein mochte. Der Chor trug sein letztes Lied vor. Mit wie viel Inbrunst diese Jugendlichen sangen! So lebensfroh und verletzlich kamen mir ihre jungen Gesichter vor.
    Severin bat uns, zum Gebet aufzustehen. Mit viel Rascheln und Gepolter kam die Versammlung auf die Beine und es dauerte eine geraume Weile, bis wieder Ruhe herrschte. Severin machte es kurz. Seine erste Fürbitte galt Katja, dass ihr die Sünden vergeben würden und das ewige Leben sicher sei. Seine zweite galt der trauernden Familie, dass sie Frieden finden, vergeben und annehmen könne, was das Schicksal ihr auferlege – das Schicksal ihr auferlege! Diese Formulierung setzte mich schachmatt; zu ungeheuerlich war er aus dem Mund desjenigen, der diesem Mädchen ins Schicksal gefahren war. Doch etwas Seltsames geschah: Statt Empörung verspürte ich das Bedürfnis, in Gelächter auszubrechen. Zu absurd war diese Totenfeier. Aberwitzig, wohin mein Leben in dieser Stadt mich geführt hatte. Vielleicht war alles nur eine Komödie, tragisch zwar, aber dennoch eine Komödie. Wie grotesk, dass ich hier saß. Wie lächerlich meine Herkunft. Hier hockte ich als sogenannter Fürst der Finsternis, gemalt und bedichtet und genötigt, das Böse zu verantworten. Immer hatten wir Hand bieten müssen für einen skurrilen Ablasshandel: Die Menschen bekamen den Freispruch, wir wurden für schuldig erklärt. Severins Ausführungen waren nichts als ein tragischer Witz! Jetzt hatte ich endgültig Mühe, ernst zu bleiben. Das wurde noch schlimmer, als wir, weiterhin stehend, von der tapferen Orgel durch die Strophen eins bis drei des Chorals So nimm denn meine Hände geschleppt wurden. Einige Male war ich versucht, mich in ein höhnisches Falsett zu flüchten. Zwar durften wir bald wieder Platz nehmen. Doch sogar das schien mir lachhaft. Ketzerisch dachte ich, diese Erlaubnis sei doch eine fürstliche Belohnung für den blamablen Gesang. Immer sonderbarer, immer stärker nach Schabernack wurde mir zumute. Wäre mir eine einigermaßen originelle Störung eingefallen, ich hätte sie mir wohl geleistet. Leider saß ich in der zweitvordersten Bank und nicht hinten beim Ausgang, sonst hätte ich mich auch davonschleichen können. So aber litt ich weiter und bekam einiges von Katjas Lebenslauf mit, den Severin als nüchterne Aufzählung vortrug. Geboren. Eltern. Bruder. Schulen. Französisch hatte sie geliebt und in Chemie war sie die Klassenbeste gewesen. Blauer Gürtel im Judo. Drei Jahre bei den Pfadfinderinnen. Er schloss mit einem kurzen Gebet, um nahtlos anzufügen: »Und jetzt wird uns eine der Freundinnen Katjas einen Text zu Gehör bringen, den sie gemeinsam verfasst haben. Lilith, darf ich dich bitten?«
    Lilith war schon aufgestanden und hatte sich vor die Trauergemeinde gestellt. Wie bleich sie war! Man spürte ihr tapferes Bemühen, ihre Stimme unter Kontrolle zu behalten:
    »Liebe Katja, du wirst uns noch lange fehlen.

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