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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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zu stark, zu grell. Rosa betäubt mich. Sie durchschaut mich. Sie weiß, wer ich bin.
    Ich zog mir die Hände vom Gesicht, öffnete die Augen. Rosa schaute mich besorgt an. Lilith und Maurice waren verschwunden.
    »Das gibt sich wieder«, sagte Rosa. »Oder wollen Sie sich setzen?« Ich schüttelte den Kopf. Obwohl sie, weil kleiner gewachsen als ich, zu mir aufsah, fühlte ich mich eingeschüchtert. Dabei war mein Schwindel wie weggeblasen und vorwärts ging es jetzt auch wieder. Der Stau am Tor hatte sich aufgelöst. Bekannte Gesichter nickten mir zu. Ich reagierte mechanisch. Einen Zuruf, den ich nicht verstand, beantwortete ich mit einer hingeworfenen Grußfloskel. Schon bald würden wir ans Licht kommen. Rosa blieb an meiner Seite. Gereizt dachte ich, sie fühle sich wohl verpflichtet, diesem verwirrten Henry Geleitschutz zu geben …
    »Vielleicht liegen Ihnen Beerdigungen nicht besonders«, hörte ich sie.
    »Wem tun sie das schon?«
    »Oh, in letzter Zeit habe ich einige sogar genossen. Ich war immer voll Dankbarkeit, dass es nicht meine war. Aber diesmal nicht.«
    »Diesmal nicht«, wiederholte ich nur und kam mir einfältig vor.
    »Ich gäbe viel, wenn mir das heute erspart geblieben wäre«, sagte Rosa.
    »Ja, eine Tragödie.«
    »Wem sagen Sie das?«, murmelte sie. Und weil wir gerade das Portal passierten, wurde ihr Gesicht jäh grell beleuchtet. Sie sah unendlich traurig aus. Jedes Fältchen war Kummer. Ein Mund aus Gram. Ihr Anblick erschreckte mich und ich erschrak ein weiteres Mal, als eine Stimme in mir gellte: Sie kann es doch nicht wissen!
    »Schauen Sie nur!«, sagte sie. Es kam wie ein Befehl und ich schreckte ein weiteres Mal aus meiner Entrücktheit auf. Erst in diesem Augenblick begriff ich wirklich, was mir jene Stimme offenbart hatte. Severin! Der Mann am Fluss war Severin! Erst jetzt begriff ich die Tragweite dieser Erkenntnis. Alles wurde gleißend: die Sonne, mein Kopfweh, die Gewissheit. Eigentlich wäre ich am liebsten geflohen – »So … so nahe geht es ihnen?«, stotterte ich.
    Rosa erwiderte nichts. Es war ja auch eine dieser Fragen, die sich selbst beantworten. Aber sie musterte mich, als ringe sie mit einer Entgegnung. Leute drängten an uns vorbei. Wir verharrten isoliert im Tunnel unserer Blicke.
    »Schön, wie Ihr Sohn gesprochen hat«, sagte jemand im Vorbeigehen zu Rosa. Sie reagierte nicht.
    »Waren Sie schon am Grab?«, fragte ich.
    »Ja.«
    »Waren viele da?«
    »Ja.« Rosa nickte auffallend gleichgültig.
    In dieser Art ging es wohl zehnmal hin und her. Ich weiß es nicht mehr. In allem vermutete ich eine verkappte Bedeutung. Im Rückblick kommt mir diese Begegnung mit Rosa Belzer unheimlich vor. Wir redeten, aber aneinander vorbei. Sie kann doch die Wahrheit nicht kennen … Ungeheuerlich diese Totenfeier, zelebriert vom Täter, unwirklich mein Gespräch mit seiner unwissenden Mutter. Überhaupt erschien mir plötzlich unheimlich, was sich in dieser Stadt seit Bellinis Maskenfest alles verändert hatte – Rosa wollte gehen:
    »Vielleicht schauen Sie ja selbst mal am Grab vorbei. Prachtvolle Kränze hat es gegeben. Bestimmt zwanzig oder mehr. Einen schönen Tag noch, Herr Lauterbach.«
    Das Friedhofsareal war unübersichtlich. Wo lagen die neuen Gräber? Ich wollte fragen, doch blieben die heckengesäumten Wege, durch die es mich trieb, menschenleer. Ein entfernter Gärtner, den ich mit Winken auf mich aufmerksam machen wollte, verschwand einfach hinter Büschen. Schließlich führten mich Gitarrenklänge auf die Spur – und ich sah, was Rosa gemeint hatte. Vier Gestelle, dicht behangen mit Gebinden, markierten das frische Grab. Etwas entfernt hatten sich zehn, zwölf Jugendliche im Gras niedergelassen. Mit Ausnahme des Mädchens an der Gitarre lagen alle auf dem Rücken. Kurz zögerte ich, weil ich sie nicht stören wollte. Als ich mich näherte, vermied ich es bewusst hinzusehen. Ich nahm aber wahr, dass mir die Gitarrenspielerin zunickte.
    Etwas gehemmt stand ich vor der Blütenpracht. Es waren wirklich beeindruckend viele Kränze. Die Schleifen waren (wohl der Lesbarkeit wegen) wie flachgewalzt ausgelegt. Wir werden dich nie vergessen kam gleich dreimal vor. Während ich einige der Botschaften entzifferte, fiel mir ein, dass ich eigentlich Rosas wegen hier war. Jedenfalls hatte sie mich auf die Idee gebracht. Das Leben ist ein Irrlicht, ein Windstoß der Tod. Judoschule Sukami. Nebendran las ich den Aufdruck der Kunstschule: Liebe Katja, wir gedenken Deiner in

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