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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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Meistens kamst du zu unseren Treffen etwas atemlos und verspätet. Du sagtest Hallo und wisst ihr, warum ich zu spät bin?, und dann hast du uns eine komische oder tragische Ausrede aufgetischt, die wunderbar erfunden war. Wir wussten es und du wusstest, dass wir es wussten, und gerade deshalb war es so lustig und schön. Für uns bist du die beste Erfinderin von Geschichten, die es je gab. Daran werden wir immer denken. Jetzt sitzen wir zusammen und schreiben diesen Text und Dörle sagte plötzlich, Katja hat sich vielleicht nur verspätet und wird gleich kommen. Aber du kamst nicht und das wussten wir auch. Wir konnten nur weinen. Wir werden dich nie vergessen. Danke für alles. Deine Freundinnen Dörle, Sue, Mege, Lilith.«
    An Barbaras Händedruck merkte ich, dass der Brief der vier sie genauso aufwühlte wie mich. Was war bloß los mit mir? Eben noch sarkastischer, aufmüpfiger Stimmung, kämpfte ich nun mit den Tränen. Ich gab den Widerstand auf, als Maurice aufschluchzte. Und ich begann zu weinen. Zum ersten Mal, seit ich mir meine paradoxe Existenz angeeignet hatte, weinte ich. Die Orgel setzte ein und ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Weinen ist traurig, aber schön, dachte ich. Nie ist der Mensch einfühlsamer. Und die einfühlsamen, mitfühlenden Menschen sind die eigentliche Krone der Schöpfung! Was also maße ich mir mit meinem Experiment an?
    Ich war ein Mann mit einem pochenden Gehirn. In meinem Kopf breitete sich rasend schnell ein Schmerz aus, während der Chor mit einem Gospelsong den Ausklang einleitete. Danach intonierte der Organist sein Endspiel mit fast unverschämter Wucht. Mir schien, als wolle er das Kirchenschiff möglichst rasch leer spielen. Alle schoben wir uns den weit offen stehenden Flügeltüren zu, die das Sonnenlicht hereinließen. Staub tanzte in den Strahlen. Im Gegenlicht wirkte die hinausdrängende Menschenmasse wie ein verklebter dunkler Klumpen. Dass ich mich dieser gnadenlosen Sonne entgegenzwängen ließ, dass überhaupt draußen ein schönes Wetter wartete, machte mich bang. Es ging nur langsam voran. Meine Kopfschmerzen wurden immer peinigender. Barbara blieb im Gedränge zurück und kurz wurde ich an Réas Hinterseite gepresst. »Nicht so stürmisch, Henry.« Meine Entschuldigung beantwortete sie mit einem gereizten Blick über die Schulter. »Ich wohne nicht mehr im Pfarrhaus, wenn es dich interessiert«, gab sie bekannt, bevor wir auseinandergetrieben wurden. Hinter mir hörte ich jemanden sagen, das hätte er dem Belzer gar nicht zugetraut. »Da war Fleisch am Knochen. Gut hat er geredet.«
    An mir vorbei wurden Grüße ausgetauscht. Auch ein paar scherzhafte waren darunter. Überhaupt begann sich die Anspannung, je näher wir den Ausgängen kamen, aufzulösen. Das Hämmern in meinem Kopf nicht. Dass ich mir immer wieder die Schläfen massierte, bewirkte keine Linderung. Am besten half noch ein anhaltendes Augenzwinkern. Leider steckten wir nun auch fest. Ich entdeckte dabei Maurice und Lilith, die sich hinter einer Säule dem Gedränge entzogen hatten. Sie standen in inniger Umarmung. Ihre langen Haare gingen ineinander über, besprengt von bunten Lichtsplittern aus dem Fensterglas über ihnen. Ein Engel im blauen Gewand breitete Flügel und Arme aus. Er beschützte sie. Nur ihretwegen war er hier, und vielleicht nur gerade jetzt. Wie zärtlich war das Bild, das dieses Liebespaar und sein Schutzengel mir boten. Sie waren die Liebe und die Poesie und das Licht – eine Weile vergaß ich sogar meine Kopfschmerzen. Wie immer trug Lilith ihre rote Lederjacke. Seine war schwarz. Ein schönes Paar. Doch was mich wirklich aufwühlte, war ihre Sanftmut. Dass Maurice seine Hände so behutsam auf Liliths Rücken, dass sie ihre Arme so achtsam um seine Schultern gelegt hatte. Sie wirkten miteinander vereint und waren doch weit davon entfernt, sich aneinanderzuklammern. Ich sah das vom Licht gesegnete Sinnbild der Liebe. Konnte es sehen, weil mein ewig analysierender, allen magischen Gefühlen abholder Verstand für eine Weile stillhielt.
    »Henry!«
    Ein Schub hatte mich vorwärtsgebracht und plötzlich stand ich Rosa gegenüber. Ihr weißes Haar war zum Zopf gebunden. Ansonsten war sie ganz in Schwarz. Ihr Blick zielte so unbarmherzig und eindringlich auf mich, dass ich kurz die Augen schließen musste. Meine Hände juckten wie von selbst an Schläfe und Stirn. Kurz befiel mich ein Schwindel. Stimmengewirr und Orgelklänge schienen vielfach lauter. Alles war mir zu viel,

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