Der Drache am Himmel
nahm ich Schluck um Schluck vom Rotwein, viel hastiger als sonst. Severin muss meine Widerstände gespürt haben. Denn mitten im Satz unterbrach er sich plötzlich und musterte mich.
»Du hältst das wohl alles für völlig ausgeschlossen?«
»Genau wie du«, sagte ich knapp.
Er brauste auf: »Um mich geht es hier doch gar nicht. Es geht um Aldo. Oder eigentlich eher um Carla. Die hat nämlich urplötzlich ihre Meinung geändert. Und das beunruhigt mich sehr. Bei ihren ersten zwei Besuchen war es ihr ausschließlich darum gegangen, sich keines Fehlurteils mitschuldig zu machen. Also um Gerechtigkeit. Dieser unbedarfte Kerl aus dem Wasserwerk sollte nicht auch noch für eine Tat büßen müssen, die gar nicht auf sein Konto ging. Carla konnte kaum mehr schlafen. Stopfte sich mit Schokolade voll, um sich gleich darauf zu erbrechen. Sie ließ sich Beruhigungsmittel verschreiben. Sie war ja auch wirklich in der Zwickmühle. Sie verdächtigte zwar Aldo, aber sie wusste doch, dass sie ihn nie, niemals verraten könnte! Sie dachte daran, als Schöffin abzutreten. Bei diesen beiden Treffen konnte ich sie beruhigen. Niemand könne verlangen, dass eine Frau ihren Mann ausliefere, sagte ich ihr. Aber gestern … gestern Nachmittag, sag ich dir, war sie plötzlich wie ausgewechselt. Kein Wort mehr von Gewissensqualen oder Gerechtigkeit. Jetzt war da nur noch blinder Hass. Wie eine Rachegöttin ist sie mir vorgekommen. Aus ihr sprach die reine, unverhüllte Wut. Wut auf Aldo. Den will sie jetzt vor Gericht zerren, ihn richtig fertigmachen. Und irgendwie glaube ich, dass ihr Sinneswandel etwas mit seinem Ghana-Aufenthalt zu tun hat.«
»Darüber kann ich leider nicht sprechen, Severin.«
»Das erwarte ich auch nicht von dir. Es geht mir nur um Carla. Auf dich hört sie doch noch. Henry, du musst ihr das ausreden. Besser, sie tritt zurück und lässt der Sache ihren Lauf. So unfähig, wie Carla es sich selbst und mir einreden will, ist das Gericht doch gar nicht.« Er räusperte sich. »Es ist mir weiß Gott peinlich, aber eines musst du noch wissen, Henry. Ihr Verdacht beruht zum Teil auch darauf, dass sie und Aldo in früheren Jahren gewisse Praktiken …«
Severin wich meinem Blick aus und massierte sich den Nasenrücken. So weit beruhigt, nahm er einen Schluck und setzte das Glas dann mit einem harten Klacken wieder auf den Tisch. »Praktiken, von denen es heißt, dass sogenannte aufgeschlossene Ehepaare sie pflegen. Erspar mir die Einzelheiten. Eine davon wird auch in den Akten erwähnt. Hat irgendetwas mit einem Fetisch zu tun. Und mit dem männlichen Geschlechtsteil. Das Gefährliche ist nur, dass Carla mittlerweile glaubt, Aldo sei weit und breit der einzige Mann, der an so etwas Geschmack findet. Das ist natürlich Habakuk. Man muss sie stoppen. Denk nur mal an Fabio und Fiona, was sie denen antut, wenn sie jetzt das Chaos … Das Beste wäre, sie träte als Schöffin ab!«
Meisterin, was meinst du dazu? , fragte ich mich. Und ich bildete mir ein, sie sagen zu hören: Nur das, was dir auch schon aufgefallen ist: Severin würde jeden Pakt eingehen, um ungeschoren davonzukommen. Manche Menschen sind eben so.
Ich holte eine zweite Flasche Wein, zog den Korken und füllte uns ein weiteres Mal die Gläser. Es blieb längere Zeit still. Ich war froh darum. Seit ich begriffen hatte, was Severin von mir erwartete, war ich wie paralysiert: Er wollte, dass ich dem tumben Kerl im Gefängnis, dem viele Jahre Zuchthaus drohten, die letzte Chance zerstörte. Carlas Intervention konnte ihn vor einem Fehlurteil bewahren. Und Severin, der Urheber dieser perfiden Verkettung, dieser Severin wollte mich anstiften, Carlas Eingriff zu verhindern! Der Mensch, die Krone der Schöpfung, dachte ich bitter.
Dabei lag über allem die Absurdität, dass Carla von falschen Annahmen ausging. Nur vermeintlich stand sie vor der Entscheidung, ob sie den Ehemann, Vater ihrer Kinder, ans Messer liefern solle. War es nicht ein höhnischer Winkelzug des Schicksals, dass Carlas Dilemma gar keines war? Nicht am Fluss, sondern in Accra war Aldo B. als böser Geist aufgetreten. Das war übel genug. Auch plante er jetzt offenbar noch Schlimmeres, suchte er sogar tödliche Mittel, Shandar zum Schweigen zu bringen. Ich wollte gar nicht daran denken.
Unaufhaltsam sickerte ein garstiger Stoff ins Städtchen. Scheinbar unaufhaltsam begann sich das Personal meines Experiments dem Bösen zu ergeben – ohne dass unsereiner auch nur im Geringsten die Hand im Spiel
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