Der Drache am Himmel
sie gesehen?«, fragte Carla und ich wusste sofort, dass sie von den geschundenen Kindern in Accra sprach. Mit Mühe konnte ich mich ihr wieder zuwenden. Aber eine Antwort wusste ich nicht.
»Oder täusche ich mich, Henry?«, fragte sie mit dünner Stimme. Es klang wie Bitte, Henry, sag, dass ich mich täusche.
»Alles wird gut«, sagte ich.
»Nein.«
»Die Kinder werden operiert. Glaub mir, hinterher sieht man gar nichts mehr.«
»Was bist du bloß für ein Mensch!«, rief sie.
Entschlossen ging ich zur Tür und öffnete sie. Che-Che schoss aus seinem Versteck und an mir vorbei in den Flur hinaus. Dort wartete er. An meine Wade gedrängt, folgte er mir die Treppe runter in die Küche. Ich muss wohl sehr umständlich mit Kanne und Kräutern hantiert haben; jedenfalls benötigte ich eine gute Weile.
»Wuff«, machte Che-Che, als Carla in die Tür trat und mir unvermittelt entgegenblaffte: »Ich hätt’ mir ja denken können, dass deine Loyalität gegenüber Aldo keine Grenzen kennt.«
»Darum geht es doch gar nicht.« Ich goss den Tee auf.
»Henry, wieso muss Fabio so etwas durchmachen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hat er im Fernsehen irgendwas über Sizilien gesehen.«
»Da gibt es doch den Spruch, dass Kinder und Narren die Wahrheit sagen. Sei ganz ehrlich zu mir, Henry: Bin ich eine Närrin? Ja oder nein?«
Ich zuckte zusammen. Bejahte ich ihre Frage, bestätigte ich ihre bösen Vermutungen. Verneinte ich sie, musste ich lügen. In Teufels Küche wirst du geraten! Diese frühe Warnung meiner Meisterin kam mir in den Sinn und noch vieles mehr. Verzweifelt flüchtete ich mich in ein Scheingefecht:
»Ich hab eigentlich immer gedacht, nur Männer könnten Narren sein.«
Ausflucht, Ausflucht, zischte mir die Meisterin zu. Gleichzeitig herrschte Carla mich an: »Weich mir nicht aus!«
»Ein Punkt für dich«, murmelte ich.
Ich werde nie vergessen, wie Carla mich anstarrte: düster, zornig, schockiert. In ihren Augen hatte ich ihre Vermutungen über Aldo bestätigt. Der Film zeigte die Wahrheit. Aldo hatte jene Kinder auf dem Gewissen. Ein Verbrecher war er. »Danke!«, stöhnte sie. »Obwohl ich nicht weiß, wie es weitergehen kann.«
Von da an schien unsere Begegnung in unwirkliche Langsamkeit getaucht. Unseren Tee tranken wir im Stehen. Der Hund lag unter dem Küchentisch. Ich sagte etwas, sie sagte etwas. Es ging nur noch darum, einen erträglichen Ausstieg aus diesem Abend zu finden. Einmal seufzte sie: »Wir haben doch tatsächlich fünf Schaukeln am Pool. Und ich hab das mal ganz entzückend gefunden …« Sie warf zwei weitere Stückchen Zucker in ihre Tasse. Später meinte sie noch, mit so einem Mann könne keine Frau zusammenbleiben. Und ich war unbedarft genug, zu behaupten, es gebe für alles eine Lösung. Und sie murmelte, ich solle mich nicht bemühen, sie könne sich ihren Tee schon selber süßen …
Da wir keinen natürlichen Ausklang schafften, brach Carla abrupt auf. »Ich mag dich wirklich sehr, Henry«, sagte sie anstelle eines Abschieds. »Aber emotional bist du das Letzte.«
Während der zwei Runden, die ich mit Che-Che noch durchs Viertel drehte, sann ich ihrer Beschimpfung nach. Und stellte fest, dass ich eher verdattert als verletzt war. Vermutlich hatte sie einfach einen Blitzableiter gebraucht.
Als ich nach Hause kam, war ich zum Grübeln zu müde und legte mich in meinem Arbeitszimmer schlafen, um Barbara nicht zu stören. Den Einuhrschlag hörte ich bereits nicht mehr. Wenn ich geahnt hätte, dass mir zwei weitere enthüllungsreiche Nächte bevorstanden, hätte ich meinen Schlaf wohl kaum so schnell gefunden.
Nach stundenlangen Sitzungen stand am Donnerstagabend endlich unser neues Verlagsprogramm. Als Spitzentitel wollten wir Das Vermächtnis des Sphinx lancieren. Der Autor hatte mit Liebe, Licht und Erleuchtung bereits einen beachtlichen Erfolg eingefahren.
Als ich nach Hause kam, war ich erschöpft, wurde aber gleich wieder etwas munterer, als Che-Che mich voller Entzücken begrüßte. Barbara war noch bis Mitternacht unterwegs. Ob ich mir etwas kochen sollte? Unschlüssig stand ich in der Küche herum und aktivierte dabei mein Handy. Zahlreiche Anrufe waren eingegangen, mehrfach registriert: Severin Belzer. Doch der konnte warten – wie alle anderen auch. Eigentlich wollte ich an diesem Abend gar nicht mehr gestört werden, stellte dann aber doch wenigstens den Vibrationsalarm an. Ich lud mir etwas Brot, Käse und zwei Birnen auf einen Teller und versicherte
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