Der Drache am Himmel
nicht hinausgekommen. Che-Che hatte sich irgendwo verkrochen. Nach einer Stunde und einigen Gläsern überrumpelte mich Severin.
»Übrigens. Dass du nicht mit Réa geschlafen hast, das rechne ich dir hoch an, Henry«, sagte er von seiner Corbusier-Liege aus, auf der er vergeblich eine bequeme Haltung gesucht hatte. »Das rechne ich dir wirklich hoch an, obwohl ich es auch irgendwie demütigend fand und verflucht wütend auf dich war.«
Wie reagiert man auf ein solches Geständnis? Ich versuchte es mit: »Genützt hat es uns allen nicht viel.«
»Mir schon. Sonst wäre ich nämlich heute nicht hier. Weißt du, ich habe so ziemlich zu allen das Vertrauen verloren. Nur nicht zu dir.«
»Und was ist mit Aldo? Ihr seid doch seit Jahrzehnten befreundet.«
Severin brachte das Kunststück fertig, zu nicken und gleichzeitig den Kopf zu schütteln. »Seit Accra benimmt er sich sehr seltsam. Das bestätigt auch Carla. Erst gestern Nachmittag war sie wieder bei mir. Ihr dritter Besuch innerhalb acht Tagen. Aber schwierig, kann ich dir sagen!«
»Was war schwierig?«, fragte ich und wunderte mich, dass Carla gestern Nacht kein Wort über ihren Besuch bei Severin verloren hatte.
»Aber nur unter uns, Henry! Ich habe Carla fest versprechen müssen, dass ich die ganze Angelegenheit sozusagen als Amtsgeheimnis behandle. Es geht dabei um streng geheime Gerichtsakten und so, über die sie natürlich mit niemandem sprechen darf.«
Mit einem Nicken versicherte ich Severin meiner Diskretion, hatte aber den spöttischen Gedanken, dass ich nun zu hören bekäme, was zweifach das Amtsgeheimnis überwunden hatte.
Er berichtete, was er von Carla wusste: Der Angeklagte hatte ein Protokoll unterschrieben, das einem Geständnis gleichkam. Indirekt gab er auch die Tat am Fluss zu. Carla hatte da erhebliche Zweifel. Für so einen großen Auftritt mit Rauch und Feuer und allen Schikanen schien ihr der Mann nicht gerissen genug. Er war ihrer Meinung nach willfährig, etwas beschränkt und das Opfer seiner Trunk- und Geltungssucht. Der Richter und ihre Schöffenkollegen sahen das anders. Geständnis und Beweislage gaben ihnen ja auch recht. Sein Alibi für die Tatnacht hatte sich als falsch erwiesen. Als gesichert konnte nur gelten, dass er bereits am frühen Abend betrunken war. Weitere Indizien für seine Täterschaft: In seinem Keller hatte die Polizei eine Handvoll Böller und andere Feuerwerksartikel sichergestellt. Seit Jahren schon bastelte er grimmige Karnevalsmasken. Und auch eine Festnahme war aktenkundig: Auf einer Stadiontribüne in Freiburg hatte er während eines Spiels drei Raketen abgefeuert. Verständlich also, dass die anderen den Fall rasch abschließen wollten. »Nur Carla befürchtet, dass sich da ein Fehlurteil anbahnt«, sagte Severin.
»Sonderbar«, sagte ich abwesend, weil mir ein greller Gedanke durch den Kopf geschossen war: Wenn es eine Rangliste der teuflischen Künste gäbe, wie die Menschen sich diese ausgemalt haben, würde die Verurteilung eines Unschuldigen bestimmt ganz weit oben stehen.
»Sonderbar? Das ist treffend gesagt, Henry! Carla redet sich nämlich ein, als Einzige die Wahrheit zu kennen. Ich habe es ihr auszureden versucht. Aber sie ist völlig außer Rand und Band. Will unbedingt eine neue Untersuchung durchsetzen, koste es, was es wolle.« Severin legte die Hände wie zum Gebet zusammen. »Jetzt halt dich fest. Sie glaubt, der wirkliche Täter sei Aldo.«
Ich atmete tief durch, aber nicht aus Überraschung. Vielmehr ging es mir um Severin. Lag jetzt, zumindest jetzt etwas wie Beschämung in seinen Augen? Sein bester Freund wurde des Verbrechens verdächtigt, das er selbst begangen hatte – das musste ihn doch aufrütteln.
Aber er zeigte nicht die geringste Gefühlsregung. Wartete nicht einmal meine Reaktion ab, sondern trug bündig und sachlich vor, worauf Carlas Verdacht beruhte. Es war ein Sammelsurium an Vermutungen, fast zwanghaft zusammengetragen von einer zutiefst misstrauisch gewordenen Ehefrau, die alle Akten mit bitterer Parteilichkeit gelesen hatte und nur gelten ließ, was Aldo als Täter nicht ausschloss. Ich hörte kaum zu. Was interessierten mich schon Schuhabdrücke, verschwundene Masken, zeitliche Übereinstimmungen? Was mich hingegen nervte: dass Severin mit dem Eifer eines Anklägers referierte, obwohl er wie niemand sonst auf der Welt wusste, dass das alles Blödsinn war und dass Aldo als Täter auf gar keinen Fall infrage kam. Weil ich mir nicht anders zu helfen wusste,
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