Der Drache am Himmel
dem Hund, dass ich brüderlich mit ihm teilen würde.
Ich setzte mich in einen der Sessel vor dem Gartenhaus, fütterte Che-Che häppchenweise mit Brot und Käse und dabei wurde mir immer leichter ums Herz. Als ich in meine zweite Birne biss, klirrte mein Handy auf dem Glas des Beistelltisches. Severin war dran. Ob er noch vorbeikommen könne, er müsse mich dringend sprechen. Ob das nicht bis morgen Zeit habe, versuchte ich ihn abzuwimmeln. »Ich muss gleich noch eine Grube ausheben für ein Apfelbäumchen, das wir pflanzen wollen. Habe ich Barbara ganz fest versprochen.«
»Dann bringe ich eben einen Spaten mit und helfe dir.«
Er kam. Wir gruben. Argwöhnisch beäugte Che-Che das Stochern unserer Schaufeln. »Wie am letzten Tag!«, keuchte Severin nach einer Weile. Natürlich spielte er nur auf Luther an, der behauptet hatte, noch am Tag des Weltuntergangs ein Apfelbäumchen zu pflanzen. In einer ironischen Geste deutete ich gen Himmel. Dort hatten sich schwere Wolken zusammengezogen und es dunkelte. Ein weiteres Gewitter kündigte sich an. Schon seit zwei Wochen herrschte schlechtes Wetter mit viel Regen. Sogar in den Pausen unserer Verlagsssitzungen war der bedrohliche Pegelstand des Flusses Thema gewesen.
»Hätte ich besser einen Schirm mitgenommen statt des Spatens«, meinte Severin.
»Wenn es nur keine Überschwemmung gibt.«
»Auf dem Damm bis hinunter zum … Überall liegen schon Sandsäcke«, wusste Severin.
»Wo?«
»Auf dem Damm.«
»Beim Wehr? Wo das Mädchen …«
Severin schüttelte unwillig den Kopf: »Ich gehe dort häufig hin, wenn ich meine Predigten vorbereite.«
Unvermittelt schwang er seinen Spaten hoch über den Kopf. »Genug da oben! Kein Regen mehr!« Das war als Witz gedacht, doch die Wirkung hätte dramatischer nicht sein können: Als wäre die Wolkendecke angeritzt worden, ergossen sich erste Tropfen hart auf das Erdreich. Severin zuckte zusammen und drehte mir sein Gesicht zu. Angst las ich darin und Misstrauen. Eigentlich konnte er sich jetzt nichts mehr vormachen. Er hatte sich in eine üble Sackgasse hineinmanövriert. War nicht nur Täter, sondern sah ungerührt zu, wie ein Unschuldiger an seiner Stelle zur Schlachtbank geführt wurde … Und er fand nicht die Kraft, sich seiner Schuld zu stellen.
Noch immer hielten wir uns gegenseitig in unseren Blicken gefangen. Ich hielt es aus, weil mich eine Entdeckung faszinierte: Jeder von uns spürte die Regentropfen, die er über das Gesicht des anderen rinnen sah, auf der eigenen Haut. Ich sah seine Tropfen und spürte sie auf meiner Haut. Ich sah bei ihm , was ich spürte, und Severin sah an mir , was er spürte. Und beide standen wir im selben Regen. Vielleicht war dies das ganze Geheimnis menschlichen Mitgefühls. Vielleicht brauchte es gar nicht mehr, um menschlich zu sein. Bei dieser Erkenntnis verspürte ich einen brennenden Schmerz, nennen wir ihn Sehnsucht. Ich hätte weinen und lachen können, es wäre dasselbe gewesen. Zwei Gestalten, die einander im Regen gegenüberstanden, und der Teufel unter ihnen verspürte die unstillbare Sehnsucht, nichts anderes als ein mitfühlender, beseelter Mensch zu sein! Das war aufwühlend und komisch und leidvoll zugleich. Ich spürte förmlich, wie mir meine Mission entglitt. Noch deutlicher als schon im Hinterzimmer jenes Gerichtssaales in Accra. Che-Che, der unter dem Vordach des Gartenhauses Schutz gesucht hatte, erlöste uns aus dem Duell unserer Blicke. Er kam plötzlich bellend auf uns zugerannt. »Guter Hund!«, sagte ich.
»Was war das jetzt?«, knurrte Severin.
Schlagartig kam mir der Gedanke, dass mein Experiment regelrecht teuflisch war. Wie erbarmungslos: den Menschen vorzuführen, dass sie an allem selber schuld sind. Sie litten doch an ihrer Widersprüchlichkeit. Verzweifelten an ihren Schwächen. Dass sie Versuchungen erlagen, war den wenigsten gleichgültig. War meine Mission im Grunde nicht ebenso paradox wie mein Wesen selbst? Wer war ich denn schon? Doch bloß einer, den es nicht gibt! Einer, der nur auftritt, um zu beweisen, dass er gar nicht existiert … In diesem Augenblick verstand ich den Grund meiner Sehnsucht: Ich hatte mich vom menschlichen Wesen infizieren lassen. War selbst widersprüchlich geworden. Und als wir uns in den Schutz des Hauses zurückzogen, dachte ich an den Regen und an meinen Schmerz und die Sehnsucht zerriss mir fast das Herz.
Ich hatte uns Pullover und Rotwein geholt und wir waren ins Gespräch, über Segeln und Stadtklatsch aber
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