Der Drachenbeinthron
weitere Wort unmöglich. Einen Augenblick lang stand der Sitha, der seine Verletzungen vergessen hatte oder nicht auf sie achtete, erstarrt und sprungbereit wie ein erschreckter Hirsch; dann war er fort, ein braungrüner Blitz, in den Bäumen verschwunden. Simon blieb mit offenem Mund allein zurück.
Das fleckige Sonnenlicht war auf den Blättern, die der Sitha hochgewirbelt hatte, noch nicht zur Ruhe gekommen, als Simon ein Surren wie von einem zornigen Insekt hörte und einen Schatten an seinem Gesicht vorübersausen fühlte. Aus einem Baumstamm neben ihm ragte ein Pfeil, der langsam zur Sichtbarkeit zurückbebte, kaum eine Armlänge neben seinem Kopf. Der Junge starrte ihn verständnislos an und fragte sich, wann der nächste Pfeil ihn treffen würde.
Es war ein weißer Pfeil, Schaft und Federn gleichmäßig schimmernd wie ein Möwenflügel. Er wartete auf den unvermeidlichen Nachfolger. Nichts kam. Das kleine Gehölz blieb still. Nichts regte sich.
Nach den sonderbarsten und schrecklichsten zwei Wochen seines jungen Lebens und nach einem Tag wie diesem hätte sich Simon eigentlich nicht wundern dürfen, als ihn eine Stimme aus der Dunkelheit hinter den Bäumen ansprach, eine Stimme, die sicher nicht dem Sitha gehörte und ganz gewiss nicht dem Holzhauer, der dalag wie ein gefällter Baum. »Geh hin und hol ihn dir«, sagte die Stimme. »Nimm den Pfeil. Er gehört dir.«
Simon hätte nicht überrascht sein sollen, aber er war es doch. Er sank hilflos zu Boden und fing an zu weinen – ein hartes, würgendes Schluchzen der Erschöpfung und Verwirrung und völligen Hoffnungslosigkeit.
»Oh, Tochter der Berge«, fuhr die merkwürdige Stimme fort. »Das sieht ja gar nicht gut aus.«
17
Binabik
ls Simon endlich aufsah, wurden seine tränenfeuchten Augen groß vor Erstaunen. Ein Kind kam auf ihn zu. Nein, kein Kind, aber ein so kleiner Mann, dass sein schwarzhaariger Scheitel Simon wahrscheinlich nicht viel höher als bis zum Nabel reichte. Auch sein Gesicht hatte etwas Kindliches: Die schmalen Augen und der breite Mund dehnten sich beide nach den Backenknochen hin und trugen zu einem offenen, gutgelaunten Gesichtsausdruck bei.
»Hier ist kein guter Ort zum Weinen«, sagte der Fremde. Er wandte sich von dem knienden Simon ab und untersuchte kurz den am Boden liegenden Kätner. »Auch denke ich, dass es wenig nützen wird – wenigstens nicht diesem toten Mann.«
Simon wischte sich mit dem Ärmel seines groben Hemdes die Nase ab und bekam einen Schluckauf. Der Fremde war zu dem bleichen Pfeil getreten, der aus dem Baumstamm neben Simons Kopf herausragte wie ein steifer, gespenstischer Ast.
»Du solltest das an dich nehmen«, wiederholte der kleine Mann; sein Mund verzog sich erneut zu einem breiten Froschgrinsen und enthüllte für einen kurzen Moment eine Palisade gelber Zähne.
Er war kein Zwerg wie die Narren und Gaukler, die Simon bei Hof und in der Mittelgasse von Erchester gesehen hatte – trotz seiner breiten Brust schien er im Übrigen wohlproportioniert. Seine Kleidung entsprach im Wesentlichen der eines Rimmersmannes: Jacke und Hose aus dicker, mit Sehnen zusammengenähter Tierhaut; ein Pelzkragen umrahmte das runde Gesicht. An einem Schulterriemen hing ein großer, ausgebeulter Ledersack, und in der Hand hielter einen Wanderstab, der aus einem langen, schlanken Knochen geschnitzt zu sein schien.
»Bitte verzeih meine Vorschläge, aber du solltest diesen Pfeil mitnehmen. Es ist ein Weißer Pfeil der Sithi und sehr kostbar, denn er steht für eine Schuld, und die Sithi sind ein gewissenhaftes Volk.«
»Wer … bist du?«, fragte Simon und bekam schon wieder Schluckauf. Er fühlte sich ausgewrungen und plattgeklopft wie ein Hemd, das man auf einem Felsen trockengeschlagen hat. Wenn der kleine Mann knurrend und mit geschwungenem Messer aus den Bäumen hervorgestürzt wäre, hätte Simon sich wahrscheinlich auch nicht anders verhalten.
»Ich?«, fragte der Fremde und machte eine Pause, als denke er ernsthaft über die Frage nach. »Ein Reisender wie du auch. Ich werde glücklich sein, zu späterer Zeit mehr zu erläutern, aber jetzt sollten wir gehen. Dieser Bursche«, und mit einem Schwung seines Stabes deutete er auf den Holzfäller, »wird mit Sicherheit nicht lebendiger werden, aber vielleicht verfügt er über Freunde oder eine Familie, die sich erregen könnten, wenn sie ihn hier so ungemein tot vorfinden. Bitte, nimm den Weißen Pfeil, und komm mit mir.«
Misstrauisch und vorsichtig, wie er
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