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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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versetzt, und sprang dann bebend zurück. Gleich darauf wurde die Stille von neuem zerrissen, diesmal durch ein sonderbares, abgehacktes Zischen. Dieses Geräusch verwandelte sich in einen rapiden Wortschwall – in keiner Simon bekannten Sprache, aber es waren dennoch Worte. Nach einem Augenblick der Erschütterung war die Lichtung wieder still.
    Simon erstarrte; er konnte sich nicht rühren. Was sollte er tun? Vielleicht war der Bewohner der Hütte auf dem Heimweg von einem Tier angefallen worden … Simon konnte ihm helfen … dann würde man ihm etwas zu essen geben müssen. Aber wie konnte er helfen? Er konnte ja kaum gehen. Und was, wenn es ein Tier war, nur ein Tier – wenn er sich die Worte in diesem jähen Ausbruch von lautennur eingebildet hatte? Und was, wenn es etwas noch Schlimmeres war? Etwa die Wachen des Königs mit hellen, scharfen Schwertern oder ein schlankes, weißhaariges Hexenwesen? Vielleicht der Teufel selber in seinen glutroten Gewändern und mit den Nachtschattenaugen?
    Woher er den Mut und sogar die Kraft nahm, die steifen Knie zu strecken und auf die Bäume zuzugehen, konnte Simon nicht sagen. Hätte er sich nicht so krank und verzweifelt gefühlt, hätte er es gewiss nicht getan … aber er war nun einmal krank und verhungert und so schmutzig und einsam wie ein Nascadu-Schakal. Er zog sich den Mantel eng um die Brust, hielt die Rolle mit Morgenes’ Schriften vor sich und humpelte auf das Gehölz zu.
    Das Sonnenlicht sickerte ungleichmäßig durch ein Sieb aus Frühlingsblättern und sprenkelte den Waldboden wie ein Schauer von Fithingstücken. Die Luft schien gespannt wie angehaltener Atem. Zuerst sah Simon nur dunkle Baumstämme und Splitter eindringenden Tageslichtes. An einer Stelle tanzten die Strahlen zuckend hin und her; gleich darauf erkannte Simon, dass sie auf eine sich windende Gestalt fielen. Als er einen Schritt darauf zu machte, raschelten die Blätter unter seinem Fuß, und bei diesem Geräusch hörte das Zappeln auf. Das Wesen – es baumelte einen guten Meter über der schwammigen Erde – hob den Kopf und starrte ihn an. Es hatte das Gesicht eines Menschen, aber die unbarmherzigen Topasaugen einer Katze.
    Simon sprang zurück, und auch das Herz in seiner Brust tat einen Satz. Er warf die Hände in die Luft und spreizte dabei die Finger so weit auseinander, als wollte er sich die Sicht auf den unheimlichen Galgenvogel dort vorn versperren. Was oder wer er auch sein mochte, er glich keinem Menschen, den Simon je gesehen hatte. Dennoch war etwas schmerzlich Bekanntes an ihm, wie aus einem halb vergessenen Traum – aber so viele von Simons Träumen waren jetzt Albträume. Was für ein seltsames Bild! In einer grausamen Falle gefangen, um die Mitte und an den Ellenbogen von einer Schlinge aus schwarzem Seil gefesselt und an einem schaukelnden Ast hängend, ohne die Erde berühren zu können, sah der Gefangenedennoch wild und trotzig aus – ein auf einen Baum gehetzter Fuchs, der mit den Zähnen in einer Jagdhundkehle sterben würde.
    Wenn er ein Mensch war, dann ein sehr schlanker. Sein schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen erinnerte Simon einen Augenblick – einen entsetzlichen, eiskalten Augenblick lang – an die schwarzgewandeten Wesen auf dem Thisterborg; aber sie waren bleich gewesen, weißhäutig wie Blindfische, während dieser hier goldbraun aussah wie polierte Eiche.
    Um ihn in dem matten Licht besser betrachten zu können, machte Simon einen Schritt vorwärts; der Gefangene kniff die Augen zusammen, kräuselte die Lippen und fletschte mit katzenhaftem Fauchen die Zähne. Etwas in der Art, wie er das tat, etwas Nicht-Menschliches in seinem durchaus menschlichen Gesicht, sagte Simon sofort, dass es kein Mann war, der hier hing wie ein gefangenes Wiesel … es war etwas anderes …
    Simon war näher herangekommen, als klug war, denn als er nach oben in die bernsteingefleckten Augen starrte, schnellte der Gefangene nach vorn und stieß dem Jungen die beiden in Tuchstiefeln steckenden Füße gegen den Brustkorb. Simon hatte zwar das schnelle Zurückschwingen bemerkt und den Angriff erwartet, wurde aber trotzdem schmerzhaft in die Seite getroffen, so geschwind bewegte sich der Gefangene. Der Junge taumelte zurück und warf dem Angreifer einen wütenden Blick zu, der ebenso finster erwidert wurde.
    Als er dem Fremden, er stand etwa eine Manneslänge von ihm entfernt, ins Auge sah, beobachtete Simon, wie die irgendwie unnatürlichen Muskeln den Mund zur

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