Der Drachenbeinthron
leer. Ein dichter, bleischwerer Klumpen zwischen Hals und Schultern löste sich auf, die Sorgen wurden fortgeschwemmt von einer Woge der Behaglichkeit. Neue Leichtigkeit durchdrang ihn und brachte zugleich eine widersinnige Schwere mit sich, eine warme, unbestimmte Schläfrigkeit. Als er allem entglitt, vernahm er seinen eigenen, sanftgewiegten Herzschlag, wenn auch gedämpft durch die kitzelnde Wolle der Erschöpfung.
Simon war so gut wie sicher, dass bis zum Sonnenuntergangnoch mindestens eine Stunde gefehlt hatte, als er in Binabiks Lager gekommen war; aber als er wieder die Augen aufschlug, war die Waldlichtung hell wie ein frischgeschmiedeter Morgen. Blinzelnd fühlte er, wie die letzten Traumfäden sachte von ihm abfielen – ein Vogel …?
Ein helläugiger Vogel mit einem goldenen Halsband, in dem sich die Sonne spiegelte … ein alter, starker Vogel, die Augen voll von der Weisheit hoher Warten und weiter Fernsicht … in seiner hornigen Kralle einen schönen, regenbogenschimmernden Fisch …
Simon schauderte und hüllte sich enger in den schweren Mantel. Er starrte in die Bäume hinauf, die sich über ihm zum Gewölbe vereinten. Die Sonne verwandelte ihre knospenden Frühlingsblätter in Smaragdfiligran. Er hörte einen stöhnenden laut und rollte sich zur Seite, um nachzusehen.
Binabik saß mit überkreuzten Beinen neben der Feuerstelle und schwankte leicht hin und her. Vor sich hatte er auf einem flachen Stein verschiedene sonderbare, bleiche Gebilde ausgebreitet: Knochen. Es war der Troll, von dem das merkwürdige Geräusch kam – sang er? Simon starrte ihn an, konnte aber nicht herausfinden, was der kleine Mann da tat. Was für eine seltsame Welt!
»Guten Morgen!«, sagte er schließlich. Binabik fuhr wie ertappt in die Höhe.
»Ah! Es ist Freund Simon!« Der Troll grinste über die Schulter und fegte die Gegenstände eilig in seinen geöffneten Ledersack. Dann stand er auf und kam schnell zu Simon herüber. »Wie geht es dir jetzt?«, fragte er und bückte sich, um dem Jungen eine kleine, rauhe Hand auf die Stirn zu legen. »Du musst einen großen Schlaf nötig gehabt haben.«
»Das stimmt.« Simon rückte näher an das kleine Feuer. »Was ist das … dieser Geruch?«
»Ein Paar Waldtauben, die heute Morgen mit uns zu speisen geruhen«, lächelte Binabik und deutete auf zwei in Blätter gewickelte Bündel in der Glut am Rand des Lagerfeuers. »Ein paar frisch gesammelte Beeren und Nüsse leisten ihnen Gesellschaft. Ich hätte dich ohnehin bald geweckt, damit du mir hilfst, mich um alle diese Gäste zu kümmern. Sie sind, denke ich, recht wohlschmeckend. Ach, nochetwas – einen Augenblick bitte.« Binabik ging wieder zu seinem Ledersack und zog zwei schmale Päckchen heraus.
»Hier.« Er reichte sie Simon. »Dein Pfeil und noch etwas anderes.« Es waren Morgenes’ Papiere. »Du hattest sie im Gürtel stecken, und ich befürchtete, du könntest sie im Schlaf zerbrechen.«
In Simons Brust zuckte ein Verdacht auf. Die Vorstellung, dass jemand, während er schlief, die Schriften des Doktors in die Hand nahm, machte ihn misstrauisch. Er riss dem Troll das dargereichte Bündel aus der Hand und stopfte es wieder in seinen Gürtel. Die vergnügte Miene des kleinen Mannes wurde betrübt. Simon schämte sich – obwohl man wirklich nicht vorsichtig genug sein konnte – und nahm den Weißen Pfeil, der in dünnen Stoff gewickelt war, sanfter entgegen.
»Danke«, sagte er steif. Binabiks Ausdruck war noch immer der eines Menschen, dessen Freundlichkeit zurückgestoßen wird. Schuldbewusst und verwirrt packte Simon den Pfeil aus. Obwohl er noch nicht dazu gekommen war, ihn genauer zu untersuchen, ging es ihm im Augenblick vor allem darum, Hände und Augen mit irgendetwas zu beschäftigen.
Der Pfeil war nicht, wie Simon vermutet hatte, bemalt, sondern vielmehr aus einem Holz geschnitzt, das weiß war wie Birkenrinde, und mit schneeweißen Federn besetzt. Nur die aus einem milchig blauen Stein geschnittene Spitze besaß Farbe. Simon wog den Pfeil in der Hand und prüfte die – im Gegensatz zur erstaunlichen Biegsamkeit und Festigkeit überraschende – Leichtigkeit, und jäh stieg die Erinnerung an den vergangenen Tag wieder in ihm auf. Er wusste, dass er die Katzenaugen und beunruhigend schnellen Bewegungen des Sitha nie vergessen würde. Alle Geschichten, die Morgenes erzählt hatte, waren wahr.
Überall auf dem Schaft des Pfeils waren schlanke Kringel, Schnörkel und Punkte mit unendlicher Sorgfalt
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