Der Drachenbeinthron
der Mönch, »zurück an … zurück an … diesen furchtbaren Ort!« Erschreckt öffneten sich seine Augen und starrten blind in Simons nur eine Handbreit entferntes Gesicht. Der Junge schaffte es nicht, sich aus dem Griff des Mönches loszureißen, obwohl jetzt Binabik neben ihm stand und zu helfen versuchte.
»Du weißt es!«, schrie Dochais, »du weißt, wer es ist! Du bist gezeichnet, gezeichnet wie ich! Ich sah sie vorüberkommen, die Weißfüchse! Sie gingen durch meinen Traum. Weißfüchse! Der Meister hat sie geschickt, um unsere Herzen mit Eis zu überziehen und unsere Seelen mitzunehmen … auf ihrem schwarzen, schwarzen Wagen!«
Und dann war Simon frei, keuchend und schluchzend. Binabik und Hengfisk hielten den zuckenden Mönch, bis er endlich aufhörte, um sich zu schlagen.
Die Stille des dunklen Waldes kehrte zurück und umgab das kleine Lagerfeuer, so wie die Abgründe der Nacht einen sterbenden Stern umarmen.
20
Der Schatten des Rades
r stand auf der offenen Ebene im Mittelpunkt einer ungeheuren, flachen Grassenke, ein Fleckchen bleichen, aufrechten Lebens inmitten eines endlosen grünen Tumultes. Nie hatte sich Simon so entblößt, so nackt unter dem Himmel gefühlt. Ringsum stiegen die Felder an und entfernten sich von ihm; die Horizonte an allen Seiten banden Gras und steingrauen Himmel fest zusammen.
Nach einer Weile, die in dieser unpersönlichen, festgeschriebenen Zeitlosigkeit Augenblicke oder Jahre gedauert haben konnte, brach der Horizont auf.
Mit dem gewichtigen Ächzen eines Kriegsschiffes bei starkem Wind erschien an der äußersten Grenze von Simons Gesichtsfeld etwas Dunkles. Immer weiter stieg es empor, unfasslich groß, bis sein Schatten Simon, tief unten im Tal, bedeckte. Der Schatten fiel so schlagartig, dass er fast ein Echo zu erzeugen schien – ein tiefes, hallendes Summen, das Simon erschütterte.
Die gewaltige Masse des Dinges zeichnete sich klar vor dem Himmel ab, als es einen langen Augenblick am Rand des Tales verharrte. Es war ein Rad, ein ungeheures, schwarzes Rad, hoch wie ein Turm. Im Dämmerlicht des Schattens, den es warf, konnte Simon nur mit weit aufgerissenen Augen zusehen, wie es sich mit quälender Zielsicherheit zu drehen und langsam den langen, grünen Hang hinunterzurollen begann; abgerissene, geschundene Erdsoden spritzten hinter ihm auf. Simon stand wie erstarrt mitten in seinem grässlichen Weg, auf dem es mahlend weiterrollte, unerbittlich wie die Mühlsteine der Hölle.
Nun war es über ihm, den Rand voran, ein schwarzer Rumpf, der bis ans Firmament reichte, nach allen Richtungen Erde regnend. Unter Simons Füßen senkte sich der Boden, als das Gewicht des Rades sein Bett aus Erdetief eindrückte. Er stolperte, und noch während er um sein Gleichgewicht kämpfte, ragte die schwarze Lauffläche vor ihm auf. Stumm und entsetzt starrte er sie an, als am Rand seines Blickfeldes ein grauer Schatten vorüberhuschte, ein grauer Schatten mit blitzendem Kern … ein Sperling sauste übermütig vorbei, etwas Glänzendes fest im gebogenen Griff. Der Junge blinzelte, um ihm nachzusehen, und als hätte ihm der Vogel beim schnellen Vorüberfliegen ans Herz gegriffen, warf Simon sich hinter ihm her, außer Reichweite des Rades, das auf ihn einstürzte …
Doch noch während er sprang und das breite Rad herunterdonnerte, verfing sich Simons Hosenbein in einem brennend kalten Nagel, der am äußeren Rand hervorstand. Der Sperling, nur ein paar Zoll vor ihm, flog frei davon und kreiste wirbelnd, grau in grau, vor dem Schieferhimmel nach oben wie ein Schmetterling. Seine glitzernde Bürde verschwand mit ihm in der Dämmerung.
Eine gewaltige Stimme sprach: Du bist gezeichnet.
Das Rad fasste Simon und wirbelte ihn herum, schüttelte ihn wie ein Hund, der einer Ratte das Genick bricht. Dann rollte es weiter und riss ihn hoch hinauf in die Luft. Am Nagel baumelnd wurde er in den Himmel gezerrt, und unter seinem Kopf schaukelte die Erde wie ein wogendes, grünes Meer. Der Fahrtwind des Rades umwehte ihn auf allen Seiten, als er nach oben stieg und auf den Scheitelpunkt zukreiste. In seinen Ohren sang das Blut.
Simon wühlte mit der Hand in der Kruste aus Gras und Lehm, die den breiten Rand bedeckte, und richtete sich mühsam auf; er ritt auf dem Rad wie auf dem Rücken eines wolkenhohen Tieres. Immer näher kam er dem gewölbten Himmel.
Dann war er ganz oben und saß – nein, schwebte – einen Augenblick auf dem höchsten Punkt der Welt. Hinter dem Rand des
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