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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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nachdachte, desto flüchtiger wurden seine Vorstellungen davon. Er verstand nur eines, nämlich dass er unter den breiten Schatten des Rades gefallen war und dass er sich, wenn er überleben wollte, gegen seine furchtbaren Umdrehungen verhärten musste.lässig am Ufer hingelagert, wo das dünne Summen der über dem Bach schwirrenden Insekten die Luft erfüllte, wickelte Simon die Seiten von Morgenes’ Leben und Regierung König Johan Presbyters aus und begann darin zu blättern. Er hatte schon eine ganze Weile keinen Blick mehr hineingeworfen, wegen der langen Märsche und der frühen Schlafenszeit, sobald das Lager aufgeschlagen war. Er löste ein paar Seiten an den Stellen, wo sie zusammenklebten, voneinander, las hier einen Satz, dort eine Handvoll Worte und achtete weniger auf das, was da geschrieben stand, als dass er sich der tröstlichen Erinnerung an seinen Freund und Lehrmeister hingab. Er betrachtete die Schrift und dachte an die schlanken, blaugeäderten Hände des alten Mannes, die so behende und geschickt gewesen waren wie Vögel beim Nestbau.
    Ein Absatz fiel ihm ins Auge. Er stand auf der Seite nach einer groben, handgezeichneten Karte, unter die der Doktor geschrieben hatte: Das Schlachtfeld von Nerulagh. Die Skizze selbst war von geringem Interesse, weil sich der alte Mann aus irgendeinem Grund nicht damit aufgehalten hatte, die Heere oder Landmarken zu bezeichnen oder eine erklärende Überschrift hinzuzufügen. Dafür erregte der darauf folgende Text Simons Aufmerksamkeit, weil er darin eine gewisse Antwort auf Gedanken fand, die ihn seit der schrecklichen Entdeckung des gestrigen Tages plagten.
    » Weder Krieg noch gewaltsamer Tod «, hatte Morgenes geschrieben, » haben irgendetwas Erhebendes, und doch sind sie die Kerze, in welche die Menschheit immer wieder hineinfliegt, so ungerührt wie die gemeine Motte. Wer je auf einem Schlachtfeld gewesen ist und sich von allgemein verbreiteten Vorstellungen nicht blenden lässt, wird bestätigen, dass die Menschheit auf solchem Boden eine Hölle auf Erden geschaffen hat, und zwar allein aus Ungeduld – und anstelle der echten Hölle, in der, wenn denn die Priester recht haben, die meisten von uns am Ende ohnehin landen werden.
    Und dennoch ist es der Krieg, der den Lauf der Dinge bestimmt, die von Gott vergessen worden sind – ob zufällig oder nicht, welcher Sterbliche kann das wissen? Darum ist er oft Schiedsrichter des Göttlichen Willens, und der gewaltsame Tod ist sein Gesetzesschreiber. «
    Simon lächelte und trank noch etwas Wasser. Er erinnerte sich sehr gut an Morgenes’ Angewohnheit, Dinge mit anderen Dingen zuvergleichen, so wie Menschen mit Käfern und den Tod mit einem runzligen, alten Archivpriester. Normalerweise hatte Simon diese Vergleiche nicht verstehen können, manchmal jedoch, wenn er sich anstrengte, den Drehungen und Windungen der Gedanken des alten Mannes zu folgen, war ihm plötzlich ein Sinn aufgegangen, als hätte man den Vorhang vor einem sonnigen Fenster fortgezogen.
    » Johan Presbyter «, hatte der Doktor an anderer Stelle geschrieben, » war unzweifelhaft einer der größten Krieger seiner Zeit und wäre ohne diese Begabung nie zum König aufgestiegen. Aber es waren nicht seine Schlachten, die ihn zu einem großen König machten, sondern der Gebrauch, den er von den Werkzeugen des Königtums machte, die ihm seine Kriegführung in die Hand legte: seine Staatskunst und das Beispiel, das er dem einfachen Volk gab.
    Tatsächlich war das, was im Feld seine größte Stärke darstellte, als Hochkönig seine größte Schwäche. Im Getümmel der Schlacht war er ein furchtloser, lachender Totschläger, ein Mann, der das Leben aller, die sich gegen ihn stellten, mit der heiteren Freude eines Heckenbarons aus Utanyeat vernichtete, der mit seinem gefiederten Pfeil einen Hirsch erlegt.
    Als König neigte er manchmal zu vorschnellem Handeln und Sorglosigkeit, und daran lag es auch, dass er die Schlacht im Elvritshalla-Tal um ein Haar verloren hätte und das Vertrauen der besiegten Rimmersmänner wirklich verlor. «
    Simon runzelte die Stirn, als er diesen Zeilen mit dem Finger folgte. Er konnte fühlen, wie Sonnenlicht durch die Bäume glitt und ihm den Nacken wärmte. Er wusste, dass er eigentlich den Wasserschlauch zu Binabik zurückbringen sollte … aber es war so lange her, dass er in Ruhe irgendwo allein gesessen hatte, und er war höchst neugierig und verwundert darüber, dass Morgenes anscheinend schlecht über den goldenen,

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