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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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um festzustellen, dass sie vom Dunkel des Abends eingehüllt war, glitt die Last des Verlustes und des Kummers von neuem auf sie herunter wie ein nasser Wandteppich. Sie setzte sich im Bett auf, um langsam auf die Füße zu kommen.
    Der Waschlappen fiel hinunter, trocken wie Herbstlaub. Sie hatte nicht das Recht, hier herumzuliegen und sich zu grämen wie ein verwirrtes kleines Mädchen. Es gab Arbeit, die getan werden musste, ermahnte Rachel sich selber, und keine Ruhe diesseits vom Himmel.
    Das Tamburin rasselte, und der Lautenspieler zupfte sanft die Saiten, bevor er mit dem letzten Vers begann.
    Und kommst du nun, o Jungfrau schön,
    in Khandery-Tuch und Seidenfall?
    Wenn du mein Herz beherrschen willst,
    so folge mir nach Emettinshall!
    Der Musikant endete mit einem Wirbel lieblicher Töne und verbeugte sich, als Herzog Leobardis Beifall klatschte.
    »Emettinshall!«, sagte der Herzog zu Eolair, Graf von Nad Mullach, der mit pflichtschuldigem Applaus Leobardis’ Beispiel gefolgt war. Insgeheim fand der Hernystiri, er hätte schon Besseres gehört. Die Liebesballaden, die am Hofe von Nabban so beliebt waren, begeisterten ihn nur mäßig.
    »Ich liebe dieses Lied«, lächelte Leobardis. Das lange weiße Haar und die rosigen Wangen ließen ihn wie einen Großonkel allerliebster Sorte aussehen, der bei den Festen zur Ädonszeit zu viel Starkbier trinkt und dann den Kindern das Pfeifen beibringen will. Nur das wallende, mit Lapislazuli und Gold besetzte weiße Gewand und der goldene Reif mit dem Eisvogel aus Perlmutt auf seinem Kopf zeigten an, dass er sich von anderen Männern unterschied. »Kommt, Graf Eolair, ich habe immer gedacht, die Musik sei das Herzblut des Taig. Hält Lluth sich nicht für den größten Gönner der Harfner in ganz Osten Ard und Euer Hernystir für die natürliche Heimat aller Musikanten?« Der Herzog beugte sich über die Lehne seines himmelblauen Sessels und klopfte Eolair leicht auf die Hand.
    »Allerdings hat König Lluth stets seine Harfner um sich«, stimmte der Graf zu. »Ich bitte Euch, Herzog, wenn ich zerstreut scheine, so liegt das gewiss nicht daran, dass es mir bei Euch an irgendetwasmangelte. Eure Freundlichkeit ist wahrhaft unvergesslich. Nein, ich muss gestehen, dass ich mir noch immer Sorgen mache wegen der Dinge, über die wir vorhin gesprochen haben.«
    In die milden blauen Augen des Herzogs trat ein betroffener Ausdruck. »Ich habe Euch gesagt, mein Eolair, dass solche Dinge ihre Zeit brauchen. Es ist gewiss ermüdend, wenn man warten muss, aber so ist es nun einmal.« Leobardis winkte dem Lautenspieler zu, der geduldig auf ein Knie gestützt ausgeharrt hatte. Der Musikant stand auf, verbeugte und entfernte sich. Sein fantastisches, kunstvolles Gewand umwogte ihn, als er zu einer Gruppe von Höflingen trat, die in ebenso üppig bestickte Gewänder und Tuniken gekleidet waren. Die Damen hatten ihre Ausstattung noch durch exotische Hüte ergänzt, mit Flügeln wie Seevögel oder Kämmen wie die Flossen bunter Fische. Auch die Farben des Thronraumes waren gedämpft wie die der Hoftrachten: geschmackvolle Blautöne, gelbliche Sahnefarben, Schattierungen in Rosa, Weiß und Seeschaumgrün. Der Gesamteindruck war der eines aus köstlichen Meereskieseln erbauten Palastes, in dem Wellen und Strömung alles geglättet und abgerundet hatten.
    Hinter den Damen und Herren des Hofes lagen die hohen Bogenfenster, die auf das bewegte, sonnengefleckte grüne Meer hinausgingen; sie nahmen die ganze Südwestwand gegenüber dem Sessel des Herzogs ein. Die See, die unaufhörlich gegen das felsige Vorgebirge anbrandete, auf dem sich der herzogliche Palast erhob, war ein bebender, lebender Teppich. Eolair, der den ganzen Tag zugeschaut hatte, wie das wandernde Licht auf der Wasseroberfläche tanzte oder stille Seeflächen enthüllte, die schwer und durchscheinend waren wie Jade, wünschte sich oft, er könnte die Höflinge einfach beiseitefegen und übereinanderpurzelnd und quiekend aus dem Saal scheuchen, damit nichts mehr ihm diese Aussicht versperrte.
    »Ihr mögt recht haben, Herzog Leobardis«, erklärte Eolair nach einer Pause. »Man muss irgendwann mit dem Reden aufhören, sogar wenn es um lebenswichtige Dinge geht. Vermutlich sollte ich mir hier, wo ich sitze, den Ozean als Beispiel nehmen. Er braucht nicht hart zu arbeiten, um zu bekommen, was er will; irgendwann wird er die Felsen abgetragen haben … die Küsten … selbst die Berge.«
    Diese Art Unterhaltung sagte Leobardis mehr

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