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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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machte sich stattdessen daran, den Fleck von dem weiß verputzten Stein zu kehren.
    »Aaaah! Vielen herzlichen Dank. Das wollte ich schon seit Monaten hier weghaben – seit Allerheiligen letztes Jahr, um genau zu sein. Also, wo im Namen der Niederen Vistrils war ich? Oh, deine Frage. Die Sithi? Ja, die waren als Erste hier und werden vielleicht noch hier sein, wenn es uns nicht mehr gibt. Wenn es uns alle nicht mehr gibt. Sie sind so grundverschieden von uns wie der Mensch vom Tier – aber uns trotzdem ähnlich …« Der Doktor unterbrach sich und überlegte.
    »Um gerecht zu sein, Mensch und Tier in Osten Ard haben nur eine verhältnismäßig kurze Lebensspanne, und das trifft auf die Sithi nicht zu. Wenn das Schöne Volk auch nicht wirklich unsterblich ist, so doch weit langlebiger als alle Menschen, selbst als unser König mit seinen über neunzig Jahren. Es kann sein, dass sie überhaupt nicht sterben, wenn es nicht aus freiem Willen oder durch Gewalt geschieht – vielleicht ist Gewalt sogar etwas Freiwilliges, wenn man ein Sitha ist …«
    Morgenes verstummte. Simon starrte ihn mit offenem Mund an.
    »Mach die Klappe zu, Junge, du siehst aus wie Inch. Es ist mein gutes Recht, mich ein bisschen in meinen Gedanken zu verlieren. Oder möchtest du lieber wieder zur Obersten der Kammerfrauen gehen und ihr zuhören?«
    Simons Mund schloss sich, und er machte sich erneut daran, den Ruß von der Wand zu kehren. Er hatte jetzt den ursprünglichen Fußabdruck so verändert, dass die Gestalt eher einem Schaf ähnelte. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, um seine Arbeit zu betrachten. Irgendwo im Nacken juckte ihn die Langeweile: Er hatte den Doktor wirklich gern und war lieber hier als an jedem anderen Ort – aber der alte Mann hörte ja gar nicht wieder auf! Vielleicht, wenn er oben noch ein bisschen wegfegte – würde es dann aussehen wie ein Hund? Sein Magen knurrte gedämpft.
    Morgenes fuhr fort – mit, wie Simon fand, vielleicht nicht unbedingt notwendigen Einzelheiten über das Zeitalter des Friedenszwischen den Untertanen des alterslosen Erlkönigs und denen der Emporkömmlinge, der menschlichen Imperatoren.
    »… und so gelangten Sithi und Menschen zu einer Art Gleichgewicht«, erklärte der alte Mann. »Sie trieben sogar ein wenig Handel miteinander …«
    Simons Magen grollte jetzt laut. Der Doktor lächelte dünn und legte die letzte Zwiebel zurück, die er gerade vom Tisch genommen hatte.
    »Die Menschen brachten Gewürze und Farben von den Südlichen Inseln oder Edelsteine aus den Grianspog-Bergen in Hernystir; dafür erhielten sie Kostbarkeiten aus den Schatztruhen des Erlkönigs, kunstreich und geheimnisvoll gefertigte Gegenstände.«
    Simons Geduld war zu Ende. »Aber was war mit den Schiffern, den Rimmersmännern? Was geschah mit den eisernen Schwertern?« Er sah sich nach etwas Essbarem um. Die letzte Zwiebel vielleicht? Vorsichtig schlich er näher. Morgenes stand mit dem Gesicht zum Fenster. Während er in den grauen Vormittag hinausblickte, steckte Simon das papierähnliche braune Ding ein und eilte zu dem Fleck an der Wand zurück. Die inzwischen wesentlich kleiner gewordene Stelle erinnerte jetzt an eine Schlange.
    Ohne sich vom Fenster abzuwenden, fuhr Morgenes fort: »Ich glaube, in meiner heutigen Geschichte gibt es in der Tat eine ganze Menge friedlicher Zeiten und Leute.« Er wiegte den Kopf und ging an seinen Platz zurück. »Der Frieden wird aber bald aufhören – nur keine Angst.« Wieder schüttelte er den Kopf, und eine dünne Haarlocke legte sich über seine runzlige Stirn. Simon knabberte verstohlen an der Zwiebel.
    »Das goldene Zeitalter von Nabban dauerte etwas über vier Jahrhunderte, bis die Rimmersmänner zum ersten Mal nach Osten Ard kamen. Damals hatte das Nabbanai-Imperium schon begonnen, sich aufzulösen. Tiyagaris’ Linie war am Ende ausgestorben, und jeder neue Imperator, der an die Macht kam, war ein anderer Wurf aus dem Würfelbecher. Einige waren gute Männer, die das Reich zusammenzuhalten versuchten; andere, wie etwa Crexis der Ziegenbock, waren schlimmer als alle Nordräuber. Und manche, wie Enfortis, waren einfach nur schwach.
    Es war in Enfortis’ Regierungszeit, als die Eisenschwinger kamen. Der Imperator beschloss, den Norden ganz aufzugeben. Der Rückzug erfolgte so schnell, dass viele der nördlichen Grenzposten sich im Stich gelassen fühlten und ihnen nichts anderes übrigblieb, als sich den vorwärtsdrängenden Rimmersmännern anzuschließen oder zu

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