Der Drachenbeinthron
rief er und drehte sich zu dem blassen, streng blickenden Sludig um. »Du hast es gefunden, mein Freund.«
»Wovon redest du?«, erkundigte sich der blondbärtige Nordmann leicht gereizt. »Ich verstehe dich nicht.«
»Das, was wir suchen. Der Ort, zu dem Colmund ritt. Der Reimerbaum. Nur dass wir an Reime dachten, wie in Gedichten. Aber du hast es jetzt richtig gesagt: Udun Rimmer‹ – Udun der Reimer. ›Reim‹ ist ein altes Wort für ›Reif‹, und davon hat Reimersgard oder Rimmersgard seinen Namen. Was wir suchen, ist nicht ein Baum aus Reimen, sondern aus Reif – aus Frost.«
Einen Augenblick machte Sludig noch ein verständnislosesGesicht, dann nickte er langsam mit dem Kopf. »Gesegnete Elysia, Troll – der Udunbaum . Warum habe ich nur nicht daran gedacht? Natürlich, der Udunbaum!«
»Kennst du den Ort, den Binabik meint?«, Simon begann allmählich zu begreifen.
»Natürlich. Es ist eine von unseren uralten Sagen – ein Baum ganz aus Eis. Es heißt, Udun habe ihn wachsen lassen, um daran in den Himmel hinaufzuklettern und sich zum König über alle Götter zu machen.«
»Aber was nützt uns diese Sage?«, hörte Simon Haestan fragen, und noch während die Worte an sein Ohr drangen, fühlte er, wie sich eine sonderbare Kälte über ihn legte wie eine Decke aus Graupelschnee. Der eisige weiße Baum … er sah ihn wieder vor sich: der weiße Stamm, der in die Dunkelheit hinaufragte, der uneinnehmbare weiße Turm, ein hoher, drohender, bleicher Streifen auf schwarzem Hintergrund … er stand mitten auf Simons Lebensweg, und irgendwie wusste der Junge, dass er ihn nicht umgehen konnte … dass kein Weg um den schlanken weißen Finger herumführte, der ihm winkte, ihn warnte, auf ihn wartete …
Der weiße Baum.
»Weil die Sage auch erzählt, wo er ist«, erklärte eine Stimme, die wie in einem langen Korridor nachhallte. »Selbst wenn es ihn nicht geben sollte, wissen wir, dass Herr Colmund dem Weg gefolgt sein muss, den die Legende ihm wies – zur Nordwand des Urmsheim.«
»Sludig hat recht«, bestätigte jemand … Binabik. »Wir brauchen nur den Weg zu nehmen, den Colmund mit Dorn gegangen ist; nichts anderes ist von Wichtigkeit.« Die Stimme des Trolls schien aus weiter Ferne zu kommen.
»Ich glaube … ich muss jetzt schlafen«, murmelte Simon mit schwerer Zunge. Er stand auf und stolperte vom Feuer weg, kaum bemerkt von den anderen, die sich lebhaft über Tagesritte und das Vorwärtskommen im Gebirge unterhielten. Er rollte sich in seinem dicken Mantel zusammen und fühlte, wie sich die verschneite Welt um ihn drehte, bis ihm schwindlig wurde. Simon schloss die Augen und glitt, obwohl er immer noch jenes Stoßen und Schwanken spürte, schwerfällig und wehrlos in den traumtiefen Schlaf.Den ganzen nächsten Tag folgten sie der bewaldeten Schneebucht zwischen See und flacher werdenden Hügeln. Sie hofften, Haethstad an der Nordwestspitze des Sees bis zum späten Nachmittag zu erreichen. Wenn die Einwohner, beschlossen die Gefährten, nicht vor dem harten Winter geflohen und westwärts gezogen waren, sollte Sludig allein hinreiten, um die Vorräte zu ergänzen. Aber selbst wenn der Ort aufgegeben worden war, konnten sie vielleicht in einem verlassenen Herrenhaus Schutz für die Nacht finden und ihre Sachen trocknen, ehe sie die lange Reise über die Nördliche Öde antraten. Darum ritten sie einigermaßen zuversichtlich weiter und kamen auch am Seeufer gut voran.
Haethstad, ein aus etwa zwei Dutzend Langhäusern bestehendes Dorf, lag auf einer Landzunge, die kaum breiter war als der eigentliche Ort; vom Hang aus betrachtet, sah es aus, als wachse das Dorf aus dem gefrorenen See hervor.
Die ermutigende Wirkung des ersten Anblicks hielt jedoch nur bis etwa den halben Weg hinunter ins Tal. Danach zeigte sich immer deutlicher, dass die Gebäude zwar noch standen, aber nichts weiter als ausgebrannte Ruinen waren.
»Verflucht,«, sagte Sludig wütend, »das ist nicht nur ein verlassenes Dorf, Troll. Man hat die Menschen vertrieben!«
»Wenn sie das Glück hatten, überhaupt noch herauszukommen«, murmelte Haestan.
»Ich glaube, ich muss dir recht geben, Sludig«, bemerkte Binabik. »Trotzdem müssen wir hinab, um herauszufinden, wie lange dieser Brand zurückliegt.«
Als sie in die Talsenke ritten, starrte Simon auf die verkohlten Überreste von Haethstad und musste unwillkürlich an die ausgebrannten Fundamente der Abtei von Sankt Hoderund denken.
Auf dem Hochhorst hat der Priester immer
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