Der Drachenbeinthron
Zügen erblickt hatte. Es waren zumeist Frauen und kleine Kinder, aber auch ein paar ältere Männer standen dazwischen, krumm und verwittert wie alte Bäume. Sie umringten eine junge Frau, die vor der Öffnung eines halbverfallenen Schuppens, dessen Hinterseite unmittelbar an den Stein der großen Außenmauer stieß, am Boden kauerte. Auf dem Schoß hielt sie den blassen Körper eines winzigen Kindes und wiegte ihn weinend hin und her. Malachias war nirgends zu sehen.
Simon betrachtete die gleichgültigen, ausgemergelten Gesichter der Umstehenden und sah dann auf die weinende Frau.
»Ist das Kind krank?«, fragte er den Mann neben sich. »Ich bin Doktor Morgenes’ Lehrling. Soll ich ihn holen gehen?«
Eine alte Frau hob das Gesicht. Ihre Augen, die in einem sich vielfach kreuzenden Netz schmutziger Runzeln saßen, waren hart und dunkel wie die eines Vogels.
»Lass uns zufrieden, Burgmann«, sagte sie und spuckte in den Staub. »Königsmann. Lass uns nur zufrieden!«
»Aber ich möchte euch helfen …«, begann Simon. Eine kräftige Hand packte ihn am Ellenbogen.
»Tu, was sie sagt, Junge.« Es war ein sehniger alter Mann mit verfilztem Bart. Seine Miene war nicht unfreundlich, als er Simon aus dem Kreis zog. »Du kannst hier nicht helfen, und die Leute sind mächtig wütend. Das Kind ist tot. Mach, dass du fortkommst.« Er gab Simon einen sanften, aber festen Stoß.
Als Simon wiederkam, stand Jeremias noch am selben Fleck. Die Lagerfeuer, die sie auf allen Seiten umgaben, zeigten in ihrem flackernden Licht seine besorgte Miene.
»Mach so was nicht, Simon«, jammerte er. »Es gefällt mir nicht hier draußen, und schon gar nicht nach Sonnenuntergang.«
»Sie haben mich angesehen, als hassten sie mich«, murmelte Simon verwirrt, aber Jeremias eilte bereits voran.
Keine einzige Fackel brannte, und doch herrschte in der Halle ein seltsames, rauchiges Licht. Nirgends auf dem Hochhorst konnte er eine lebende Seele entdecken, aber durch alle Gänge hallte das Geräusch von Stimmen, die sangen und lachten.
Simon ging von einem Zimmer ins andere, zog Vorhänge beiseite, öffnete die Türen von Anrichteräumen, konnte aber niemanden finden. Fast war es, als verhöhnten ihn die Stimmen bei seiner Suche – erst schwollen sie an, dann wurden sie wieder leiser, in hundert verschiedenen Sprachen, von denen er keine einzige kannte, psalmodierend und singend.
Endlich blieb er vor der Tür des Thronsaales stehen. Die Stimmen waren lauter denn je und schienen allesamt aus dem großen Raum zu rufen. Er griff mit der Hand nach unten; die Tür war nicht verschlossen. Als er sie aufstieß, verstummten die Stimmen, als hätte das Knarren der Angeln sie vor Schreck zum Schweigen gebracht. Das dunstige Licht quoll heraus und an ihm vorbei wie schimmernder Rauch. Er trat ein.
Mitten im Raum stand der vergilbte Thron, der Thron aus Drachenbein. Um ihn herum tanzte ein Kreis von Gestalten, die sich an den Händen hielten. Sie bewegten sich so langsam, als wateten sie durch tiefes Wasser. Mehrere erkannte er: Judith, Rachel, Jakob den Wachszieher und andere Burgleute; die Gesichter in wilder Fröhlichkeit verzerrt, verbeugten sie sich voreinander und machten kleine Luftsprünge. Zwischen ihnen drehten sich vornehmereTänzer: König Elias, Guthwulf von Utanyeat, Gwythinn von Hernystir; wie die Burgleute kreisten auch sie so langsam und bedächtig wie altersloses Eis, das Gebirge zu Staub zermahlt. Hier und da ragten hohe Gestalten aus dem schweigenden Ring, schwarz glänzend wie Käfer – die Malachitkönige waren von ihren Sockeln gestiegen, um dem Fest beizuwohnen. Und in der Mitte erhob sich die Masse des ungeheuren Thrones, ein schädelgekrönter Berg aus stumpfem Elfenbein, der voll Lebenskraft zu sein schien, aufgeladen mit uralter Energie, die den Kreis der Tänzer an straffen, unsichtbaren Zügeln hielt.
Im Thronsaal war es still, bis auf den dünnen Faden einer in der Luft zitternden Melodie: das Cansim Felis, die Hymne an die Freude. Die Töne kamen langgezogen und erweckten Unbehagen, so als seien die unsichtbaren Hände, die sie zupften, nicht für irdische Instrumente geschaffen.
Simon fühlte sich in den grausigen Tanz hineingezogen wie in einen Strudel; ohne die Füße zu heben, bewegte er sich doch unausweichlich weiter nach innen. Mit einer langsamen Drehbewegung, als lösten sich ineinander geschlungene Grashalme, wandten sich die Köpfe der Tänzer ihm zu.
Inmitten des Ringes, auf dem Drachenthron selbst,
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